Thomas soll’s richten

Auszeit mit

Über Sinn und Unsinn von diesen wie Pilze aus dem Boden schiessenden “Castings” lässt sich trefflich streiten. Sie finden indessen in inflationärem Ausmass einfach statt. Es fischen gestandene Schlager-Fuzzis nach Sänger*innen-Nachwuchs oder Menschenvertsher*innen in Dirndl und Krachlederhose nach Möchtegern-Bäuerinnen und “Ich-weiss-schon-wie-das-geht-Melkerinnen”. Oft ist das dann ein publikumswirksames “Im-Trüben-Fischen”. Weil – Casting (aus dem Englischen to cast) bedeutete früher tatsächlich fischen…

Die zahllosen “Casting”-Formate von RTL bis Schweiz irgendwas machen deutlich, dass einen dicken Fisch an die Angel zu bekommen bisweilen äusserst schwierig ist. Das nur nebenbei.

Vor einigen Wochen ereignete sich eine Tragödie im Privatfernsehen. Sie hiess Melanie. Melanie tauchte in der ersten Folge der neuen Staffel “Deutschland sucht den Superstar” auf. Selten sah man in diesem Casting-Format, das mehr Träume schreddert als die Crédit Suisse Dokumente verbotener Insider-Deals, eine Hoffnung schmerzvoller zerschellen. Und das ausgerechnet in dieser 19. Staffel  DSDS, die sich das Motto “Music is King” aufs angeschmuddelte Image pinselte.

Ausgerechnet jetzt, wo nach dem Verschwörungs-Guru Xavier Naidoo, dem KZ-Relativierer Michael Wendler und dem Kotzbrocken Dieter Bohlen der Saubermann Florian Silbereisen an die Spitze montiert wurde, ausgerechnet jetzt, wo alle lieb sein wollen, hinterliess die erste Folge ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Enttäuschung. Wie konnte das passieren? Wo doch Empathie-Neandertaler Dieter Bohlen samt Keule fehlt.

Der Tatort der Grausamkeit ist Wernigerode, eine Stadt im Harz in Mitteldeutschland. An diesem Drehtag stürmt besagte Melanie den Kubus. Sie wirft die blonde Mähne zurück, winkt und lacht. Die Jury lacht, die Regie legt einen warmen Filter übers Bild. Melanies Stimme, angekurbelt von Adrenalin, schrammt beim Sprechen den Maximalpegel, aber, tatsächlich, was für ein Sonnenschein. Vorangegangen war eine sympathische Einführung der Person: Auf Instagram zeigt die 21-jährige gebürtige Zürcherin das kleine Hotel in den Bergen, in dem sie als Zimmermädchen arbeitet, gleich neben dem Matterhorn und Walliser Schwarznasenschafen…

Mama Agi ist den ganzen Weg nach Wernigerode mitgekommen, sie ist ihre “grösste Bezugsperson”, und Melanie schraubt die Fallhöhe mit Sätzen wie “mein grösster Traum ist die Musik”, “Ich schaue DSDS seit ich ein Kind bin” und “Ich habe immer zu meiner Mamma gesagt: Irgendwann geh ich dahin!” auf gefährliche Höhen.

In diesen zwei Minuten liebt man Melanie, die Jury liebt Melanie, die Menschen draussen lieben Melanie, und so überrascht es nicht, dass Florian Silbereisen, kurz bevor die Kandidatin mit dem Song “Simply the Best” von Tina Turner beginnt, die Augen schliesst, die Daumen drückt und betet: “Bitte…kann singen.”

Jetzt aber die Realität, die bei Casting-Kandidaten gern von gleissender Hoffnung überstrahlt wird: Sie kann es nicht! Grund genug für die Juroren, den Zweihänder über Melanis Haupt niedergehen zu lassen. Aber was machen die? Sie kuscheln. Am Ende ist es die Pflicht von Silbereisen, der in der Show als “Deutschlands grösster Entertainer” vermarktet wird, ein Machtwort zu sprechen. “Als Sängerin hier bei DSDS würde ich Dir keinen Gefallen tun, wenn ich Dir diesen Zettel gebe” (zum Weiterkommen, natürlich). Blühender Unsinn, denn wer in den Abgrund blickt, interessiert sich nicht für langfristige Anlagestrategien. Aber vielleicht lässt sich – in Watte gepackt – eine Absage besser verdauen…

Keine Frage, Dieter Bohlen hätte ganz anders auf den Putz gehauen. Vielleicht mit einer sanften Variante “Was schön ist an dir – du hast ne schöne Klatsche” oder verachtend mit “Was ist der Unterschied zwischen dir und einem Eimer Scheisse? der Eimer”. Nicht gerade appetitlich, zugegeben. Aber Bohlen machte mit seinem rücksichtslosen Stil Quote. Und das ganz ordentlich. Von diesen ist RTL mit seiner 19. Staffel meilenweit entfernt.

Ein Erklärungsversuch, warum es letztlich erträglicher war, Bohlen beim Zertrümmern zu beobachten, als sich das Gedöns von Silbereisen und seinen Spezis anhören zu müssen: es gibt grob geschätzt 500 Theorien zu Humor, eine davon ist die Überlegenheitstheorie. Es ist nicht die Schmeichelhafteste für das menschliche Wesen, aber sie lehrt uns viel über die Funktionsweise das Spotts (und damit über Casting-Shows).

Thomas Hobbes, ein englischer Philosoph und Staatstheoretiker, jemand der sich viel mit den Abgründen unserer Spezies beschäftigte sah Lachen als Folge eines “plötzlichen Triumphs”, als Ergebnis der eigenen Überlegenheit vor einer minderwertigen Person. Das klingt schlimm, aber schon im Alten Testament folgen die meisten Lacher dem Impuls der Verachtung und des Hohns.

Bohlens Showauftritte beruhten auf diesem Konzept: Einer, der sich mit Yacht-Selfies und uralten Modern Talking-Erfolgen brüstet, geniesst sein Überlegenheitsgefühl und kann sich über die zittrigen Gesangsdarbietungen der Dilettanten lustig machen.

Und jetzt geht RTL am kommenden Samstag mit der ersten Liveshow von DSDS ins prime-time-Programm, mit einem Quoten-Rückstand, der für die gnadenlos kalkulierenden Mathematiker-Hirne des Privatsenders inakzeptabel ist. Dass man den Schritt aus dem tiefen Sumpf des Zuseher-Schwundes ausgerechnet mit dem Engagement der (neben Bohlen) zweiten Modern Talking-Hälfte am Juroren-Pult zu realisieren plant, mutet etwas abenteuerlich an.

Nun, vielleicht wird ja mit Thomas tatsächlich alles ANDERS. Vorsicht, Kalauer!

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