Schildbürger überall

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Auszeit mit

Möglicherweise kennen sie diese Geschichte: um ihre närrische Lebensart vorzuzeigen, bauen die Leute aus Schilda ein neues, dreieckiges Rathaus mit einem grossen Tor, aber ohne Fenster. Weil es nun im Rathaus stockfinster ist, versuchen sie danach mit der Hilfe von Eimern und Säcken, Kästen und Körben, auch Kannen und Schüsseln, das Sonnenlicht einzufangen und ins Innere zu tragen.

Zur Entlastung der „Sonnenfänger“ aus dem Landkreis Elbe-Elster in Brandenburg, aus Schilda eben, sei angefügt, dass vergleichbare Schelmendarstellungen im deutschen Sprachraum auch von der hessischen Kleinstadt Schwarzenborn (Schwarzenbörner Streiche) überliefert sind. Auch aus anderen Sprachregionen sind ähnliche Geschichten bekannt, so etwa aus dem englischen Gotham beispielsweise, aus den ostjüdischen Erzählungen über die „Chelmer Narren“, aus der Türkei die mittelalterlichen Geschichten des „Hodscha Nasreddin“ oder aus Tschechien die fiktive Stadt Kocourkov.

Die Legende um Schilda, die allerdings noch um einiges reicher ist an ähnlichen „Geschichten“ obiger Art, ist bis heute Bestandteil der deutschsprachigen Kultur und hat in den deutschen Wortschatz Einzug gehalten. Der Begriff „Schildbürgerstreich“ findet in der Umgangssprache für aberwitzige und irreführende Regelungen oder Auswüchse der Bürokratie Verwendung.

Aberwitzig und irreführend bringt es perfekt auf den Punkt. Oder wie würden sie es bezeichnen, wenn sie hören, dass eine Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine beim Einzug in einer Schweizer Gemeinde den „Willkommensgruss“ in Form einer Rechnung der Firma „Serafe“ bekommt? „Serafe“? Da klingelt doch was.

Die „Serafe AG“ ist – sicher fällt es ihnen gerade wieder ein – die „Schweizerische Erhebungsgesellschaft für die Radio- und Fernsehabgabe“. Sie erhebt seit dem 1. Januar 2019, nach einem klaren Nein (71,6 %) des Schweizer Volks zur Initiative „Ja zur Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren“ am 4. März 2018, die Rundfunkabgaben und löste in dieser Funktion die „Billag AG“ ab.

Kurzum – die ukrainische Flüchtlingsfamilie habe sich in der gratis zur Verfügung gestellten Wohnung der kürzlich verstorbenen Grossmutter eingerichtet. SBB und Stadtbus lassen die Familie umsonst mitfahren. Dank der Swisscom können sie in die Heimat telefonieren, ohne sich Sorgen um die Roaming-Gebühren zu machen. Das Konto bei der Credit Suisse kostet ebenfalls nichts. Die neuen Nachbarn haben der Mutter einen ersten Job vermittelt. Die Kinder wurden ruckzuck in den Kindergarten aufgenommen.

Friede, Freude, Eierkuchen allenthalben.

Seit ihrer Ankunft in der Schweiz vor zwei Monaten hat die Flüchtlingsfamilie jedenfalls viele Momente erlebt, in denen das Land eine echte Willkommenskultur demonstriert hat. Doch die andere Schweiz, die kleinliche, bürokratische – sie ist natürlich schon noch da und dringt durch sämtliche Ritzen all der Beamtenstuben vom Bodensee bis zum Genfersee. Da sollten wir uns mal nichts vormachen.

Stichworte… kleinlich, bürokratisch. Nichts anderes ist dieses Couvert im Briefkasten der aus der Ukraine Geflüchteten. Versehen mit dem Logo der „Serafe AG“. Eine Rechnung über 335 Franken. Die Radio- und Fernsehgebühr für ein Jahr. Seit der Anmeldung als Flüchtlinge mit „Schutzstatus S“ sind gerade mal rund drei Wochen vergangen! Der „Schutzstatus S“ bedeutet konkret, dass betroffene Personen ohne Durchführung eines Asylverfahrens Schutz in der Schweiz erhalten – den Ausweis „S“. Dieser ist auf höchstens ein Jahr befristet und verlängerbar.

Pech für die ukrainische Familie, dass sie ohne Umweg durch ein Asylheim in eine eigene Wohnung gezogen ist. Da kennt der Staat keine Gnade. Gemeinden und Kantone unterscheiden bei ihren monatlichen Datenlieferungen an die „Serafe AG“ nicht zwischen Alteingesessenen und Flüchtlingen oder Sozialhilfeempfänger – vor dem Radio- und Fernsehgesetz sind alle gleich, sobald sie in eine eigene Wohnung ziehen.

Gleich mal die hohle Hand zu machen, darin gehören wir Schweizer im weltweiten Vergleich ohne Zweifel zu den Spitzenreitern. Ob die Gebühreneinzieherin vor dem Versand der Rechnung jedoch erhoben hat, ob die Neueingezogenen überhaupt einer Gebührenpflicht unterliegen, ist eher unwahrscheinlich. Die Rechnungen werden automatisch generiert, heisst es. Dazu steht im Artikel über „Abgabe für Radio und Fernsehen“: In der Schweiz wohnhafte Personen, die Radio- und Fernsehprogramme empfangen, sind aufgrund des Radio- und Fernsehgesetzes (RTVG) verpflichtet, Empfangsgebühren zu bezahlen. Vielleicht aber hat Familie „X“ von wo auch immer in der Ukraine gar keinen „Vektor“ (Antenne, Kabel, Satellit, Telefon, Handy, Internet) aus der Heimat retten können, um irgendwelche Programme empfangen zu können. Zudem sind sie an Sven Epiney und all seinen Kameraden in den seicht-tumben Produktionen aus Leutschenbach möglicherweise nicht interessiert. Und an Gebühren dafür schon gar nicht.

Sicher haben sie derzeit ganz andere Probleme als eine Rechnung der „Serafe AG“. Indessen – woher soll das ein Schildbürger wissen?

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