Aufschnitt statt Bratwurst

Auszeit mit

Hatten sie auch dieses schale Gefühl in der Magengegend, als sie sich beim Osterbrunch dem üppig bestückten Buffet zuwandten? Diese Mischung von verschlagenem Appetit und irrationalem „aber-andere-müssen-hungern“-Gefühl. Das Verlangen nach dem gefärbten harten Ei einerseits, und die anderseits bremsende Scham angesichts des Überflusses.

Vielleicht hätte ich vor dem Frühstück die Zeitung besser nicht gelesen. Ich war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Da stand es – schwarz auf weiss. Als warnender Denkanstoss im Hinblick auf die bevorstehende Masslosigkeit: „Wovon lebt eigentlich Pierin Vincenz?“

Mein Gott, diesen armen Kerl hätte ich doch in der Tat beinahe vergessen. Es drängten sich mal wieder die Worte unseres Gemeindepfarrers in meine Hirnrinde: „Man vergisst gerne, dass es anderen nicht so gut geht wie uns…“ Eine mahnende Weisheit an die Adresse der Rücksichtslosen. Sollte ich mir Vorwürfe machen?

Ich weigere mich, dies zu tun.

Denn ein paar wenige Zeilen unter dem reisserischen Titel vernehme ich staunend, dass der gute Herr Vincenz sich 11 Millionen (ELF!) Franken Pensionskassen-Guthaben habe auszahlen lassen. Elf Millionen! Dafür muss der arme Kerl Tag und Nacht gearbeitet… oder exorbitant viel verdient haben. Zweiteres trifft wohl die Wahrheit am besten. Und dennoch geht Vincenz derzeit – materiell gesehen – auf dem Zahnfleisch. Alles blockiert!

Kurzer Exkurs in das „Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge“, BVG genannt. Der BVG- oder im Volksmund PK-Beitrag (Pensionskassen-Beitrag) beträgt – je nach Alter und Höhe des Lohnes – zwischen 7 (für 25- bis 34-jährige) und 18 Prozent (für 55- bis 64-jährige). Geht man bei Freund Vincenz von einem Durschnitts-Satz von 15 Prozent aus, hätte er während seiner rund 40 Arbeitsjahre zirka 1,6 Millionen Franken jährlich verdienen müssen. Was er in der Summe (73 Millionen) sicherlich bekommen hat – ob er es verdient hat, ist eine andere Frage.

Sie fragen, wer Pierin Vincenz ist?

Nun, das ist der umtriebige einstige Bankmanager aus dem Bündner Vorderrheintal, der von 1999 bis 2015 CEO der Raiffeisen-Gruppe gewesen, und der eben erst vom Bezirksgericht Zürich zu drei Jahren und neun Monaten Haft verknurrt worden ist. Ihm werden mehrfache ungetreue Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung vorgeworfen. Es geht – natürlich, ist man geneigt zu sagen – um Millionen. Da blockiert die Staatsanwaltschaft schon mal Vermögenswerte. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es in diesem Strafrechts-Verfahren genügen Parteien gibt, die den Ausgleich ihrer Verluste anstreben.

Wenn davon gesprochen wird, dass Herr Vincenz faktisch pleite ist, dann dürfte das auch nicht ganz so falsch sein. Seine nicht ganz billigen Villen und Häuser in der Ostschweiz und im Tessin sind zum Verkauf ausgeschrieben, und seine Grossgläubiger, Stadler-Rail-Chef Peter Spuhler (lieh Vincenz 6,5 Millionen) und Ex-FC-St.Gallen-Präsident und Immobilier Dölf Früh (4,3 Millionen) sind – so hört man – auch hinter ihrer Kohle her. Zudem hält sich das Erbarmen einstiger Weggefährten und mitgelaufener Festbrüder in sehr engen Grenzen. Vielleicht waren sie bei den Eskapaden ihres Spezis zu selten in die Nachtclubs eingeladen worden. Da scheint eine Retourkutsche gerechtfertigt…

Nicht akzeptabel, meint der Lautsprecher des Boulevard, Hans „Hausi“ Leutenegger. Bis einem wie ihm, dem ehemaligen Kranzschwinger und Bob-Olympiasieger, das Handy aus der Hand fällt und es ihm den Atem verschlägt, braucht es in der Tat viel. Aber, so sagt er selbst, es ist ihm geschehen, als er vom Urteil gegen seinen „guten Freund“ erfahren hat. Das Urteil sei ein Skandal, trötet der Opa der Ringier-Familie in die Welt hinaus. Und sein Leibblatt druckt den Schwachsinn. Das ist, wenn, dann in etwa gleich skandalös wie das Urteil selbst.

Aber im Schweizer Geld- und Promi-Adel verliert man bisweilen den klaren Blick auf unverrückbare Tatsachen. Mit welchen Mitteln jemand in den Kreis der Reichen aufsteigt, darüber spricht man unter „Freunden“ nicht. Da ist jede Frage eine Frage zu viel.

Sicher trieb es Hausi Leutenegger ebenso die Zornes-Röte ins Gesicht, als ihm jemand gesagt hat (einer wie Unternehmer Leutenegger liest nicht selber, er lässt lesen…), sein Freund Pierin müsse mit 2200 Franken AHV pro Monat auskommen. By the way: warum hat der arme Kerl nicht einmal Anrecht auf eine ganze Rente? Nun gut, der Tag wird sicher kommen, an dem der Bedauernswerte Ergänzungs-Leistungen beantragen muss, weil all seine Häuser und Villen den Forderungen seiner Gläubiger geopfert werden mussten. Quintessenz: Es bleibt P.V. (Name dem Autor bekannt) kein „Stutz“ mehr, um mit Freund „Hausi“ an der Olma eine Bratwurst kredenzen zu gehen. Was für ein Desaster…

Da fällt mir ein, dass bei unserem Brunch ein paar Scheiben Aufschnitt übriggeblieben sind. Ob das für Herrn Vincenz eine Alternative zur Olma-Bratwurst wäre?

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein