Das kalte Herz

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«Liebesgrüsse in Moskau»? Wohl eher nicht. 

Wohl aber die mit keinem vernünftig erscheinenden Vorwand vermeidbare Pflichtübung eines amtierenden Staatspräsidenten, wenn einer seiner Vorgänger gerade gestorben ist – der zeitnahende Besuch an der Bahre des Verblichenen.  Das ist lange Tradition und Kultur in Russland.

Der pressewirksame Auftritt Putin am offenen Sarg des weltweit geschätzten letzten Präsidenten der ehemaligen Sowjetunion, im Krankenhaus, wo dieser nach langem Leiden starb, soll viel aussagen und sagt aber auch viel über den Menschen Wladimir Putin aus.

Bleich und unscheinbar wie immer schon steht dieser am Sarg seines Vor-Vorgängers. 

Im Geheimdienst soll er «Motte» genannt worden sein – weil er schon damals, beim KGB im seit Kriegsende besetzten Ostdeutschland – an dem von ihm wenig geliebten Dienstort Dresden – bleich, gewöhnlich und unscheinbar gewesen sein soll – das war jüngst irgendwo in einer seriösen Quelle zu lesen. Ich erinnere es nicht genauer wo, aber «die Motte» ist mir als bildhaftes Gleichnis haften geblieben.

Ohne den gestürzten Gorbatschev und den ihn kurzerhand per Dekret unkritisch ins höchste Staatsamt befördernden, trinklustigen russischen Ex-Präsidenten Boris Jelzin wäre der blasse unscheinbare und vergleichsweise kleinwüchsige Wladimir Putin in Russland wohl nie an die Schalthebel der Macht gekommen. Und damit auch nicht zu seinem märchenhaften Reichtum, zu dem er durch perfektioniertes «Teilen und Herrschen» gelangt ist. Die Kohle und Anteile abdrückenden Oligarchen nannten ihn damals unter der Hand «Mister 50%».

Man möchte in diesem Moment, wo dieser Wladimir Putin den toten Mikhael Gorbatschev betrachtet am liebsten in sein Hirn sehen, um seine Gedanken lesen zu können!

Diese werden vermutlich auch weiterhin nicht nachvollziehbar sein. Wie auch bei seinen Auslandsbesuchen seine Hinterlassenschaften auf der Toilette für die westlichen und anderen Geheimdienste auf ewig unerreichbar sind, weil Putin immer sein eigenes mobiles Klo aus Moskau mitbringt und konsequent wohl in jeder Lebenslage im Ausland zu benutzen scheint. Was man auch unlängst irgendwo las. Putin ist zur Blackbox, zum Forschungsobjekt geworden und man orakelt in aller Welt täglich neu über ihn. 

Der SPIEGEL titelte gestern unter diesem Bild: Â«Putin sendet kalte letzte Grüsse» und stellt sehr richtig fest, dass angesichts Gorbatschev`s sehr langer Krankheits- und Leidenszeit man sich seitens der Regierung In Moskau ebenso lange man hätte entscheiden können, wie man sich im Todesfall von Gorbatschev von offizieller Seite vom letzten Präsidenten der Sowjetunion würdig zu verabschieden gedenkt. Wenn man es denn wollte.

Das angemessene Staatsbegräbnis mit den üblichen und darüber hinaus gehenden Ehren wird Mikhael Gorbatschev von Wladimir Putin jedenfalls verweigert. Von einem geheimen Politbüro oder ähnlichem Gremium in Moskau haben wir bisher keine Kenntnis. Ein Mann, der sich mehr in Nowo Ogarjowo als im Kreml verschanzt, entschied wohl allein nach seinem inneren Kompass.

Und die Entscheidungsträger und Weggefährten aus aller Welt können in Moskau auch keinen Abschied von Präsident Gorbatschev nehmen – wer hätte jemals gedacht, dass es nochmal mal so kommen würde. Schlimmer als zu Zeiten des kalten Krieges. Damals wurde sich trotzdem gegenseitig besucht. Wenigstens auf Beerdigungen.

Wer ahnte sowas, zum Beispiel im späten September 2001; damals, im Deutschen Bundestag in Berlin als der wortgewandte unscheinbare noch schlanke  Wladimir Putin in monotoner und eher leiser deutscher Sprache die Abgeordneten, Gäste und Presse einwickelte und nachhaltig hinters Licht führte. Welche Abhängigkeiten auf Vertrauensbasis und Vertragsbasis in den Jahren danach entstanden, wurde uns seit 2014 bereits ermüdend vors Auge geführt, seit dem 24. März 2022 dann offen mit der Brechstange der direkten politischen und wirtschaftlichen Erpressung. Nicht nur Frau Merkel hatte wahrlich wirklich blaue Augen. Im doppelten Sinne.

Ex-Präsident Mihkael Gorbatschev wird somit heute am Samstag in Moskau mit einer vermutlich eher sehr sparsamen und schlichten Zeremonie ins Grab gebracht. 

Möglicherweise gibt es dazu noch nicht mal bewegte Bilder von RUSSIA Today (RT), sondern nur Standbilder, die von Putin persönlich freigegeben werden.

Dabei ist mit Gorbatschev eine der prägenden Gestalten des letzten Jahrhunderts, mit erheblicher Auswirkung auf dieses Jahrhundert, nun von dieser Welt gegangen.

Dessen Vermächtnis ist weltweit anerkannt und trotzdem irgendwie zwiespältig: in Deutschland wird er gefeiert wie ein Popstar, weil er die Wiedervereinigung der beiden deutschen Republiken in einer durch Bundeskanzler Kohl, dessen Berater Teltschik und Aussenminister Genscher blitzschnell kreierten Handlungskonstellation ohne grossen Widerstand rasch ermöglicht hat. Eile war nämlich angesagt: Kohl & Co. ergriffen – nach ihrer eigenen Wahrnehmung – «den Mantel der Geschichte», solange ihnen dieser ihnen noch als greifbar erschien. 

Die späteren Geschehnisse um Gorbatschev und den Staatstreich gegen ihn als er sich auf der Krim 3 Wochen erholte, gaben Kohl & Co. Recht.

Es gab für Gorbatschev damals keine andere gesichtswahrende Wahl. Er musste der deutschen Einheit zustimmen. Auch, um sich nicht selbst zu widerlegen. 

Damals im Kaukasus, mit den zahlreich angereisten deutschen Politikern beim lockeren Spaziergang in Pullovern und Strickjacken an rauschenden Bächen. 

Zumal ihm auch noch der Abzug seiner Roten Armee aus der DDR mit Milliarden von dringend benötigten Devisen und den versprochenen deutschen Baudienstleistungen in Russland für die unterzubringenden Truppen auch noch richtig schmackhaft gemacht worden ist.

Kohl & Co. haben für Deutschland damals perfekt gespielt und das Zeitfenster optimal genutzt. Bei aller Kritik an seiner Neigung des Aussitzens wichtiger Fragen war der hoch agil und sehr clever. Auch aufgrund sicherer Informationen aus Moskau.

Gorbatschev war im Gegenzug klar, dass man eine Nation nicht auf Dauer künstlich spalten kann und er nur jetzt noch einen namhaften Preis erzielen kann und muss. Den Preis für das Loslassen der DDR aus den Klauen Moskaus. Die DDR stand vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Und nach der Wende wurde klar, dass es noch viel schlimmer als angenommen war.

Auch die anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks verdanken Gorbatschev letztlich die Wiedererlangung ihrer Souveränität. Er musste diese Staaten ziehen lassen. Die wären früher oder später sowieso gegangen. Polen und Ungarn z.B. waren überhaupt nicht mehr zu halten und spurten seit 1981 und 1984 schon vor. 

Der Diktator Erich Honecker, geboren in Wiebelskirchen im Saarland in der BRD, wollte sein ostdeutsches «Haus» dagegen nur mal rasch «tapezieren» und verteufelte Glasnost & Perestroika damit, dass er solche Ideen definitiv nicht brauchen würde und war ziemlich angefressen als ihm der 40. Geburtstag seines Arbeiter- und Bauern-Paradieses durch diese Arbeiter & Bauern verdorben wurde. Draussen vor dem «Ballast» der Republik, als drinnen mit Gorbatschev seinen Apero zelebrierte.

Ein Gorbatschev aber wusste aber wohl auch dank seines wohl immer noch gut funktionierenden KGB genauer um die wahre Statik dieses «Hauses DDR», nach dessen 40 Jahren Bauzeit und den ebenso langen «Bau auf-Parolen», derer das Volk jetzt völlig überdrüssig war und ahnte Böses für diejenigen, die zu spät auf das Leben reagieren.

Überall im Ostblock war jetzt «Feuer unter dem Dach» Gorbatschev wusste das alles wohl sehr genau, eben auch dank seines KGB, der scheinbar immer gut am Puls der Zeit und der Völker des Ostblocks unterwegs war und ihm die ungeschminkten Morgenberichte in den Kreml lieferte. Er machte nichts.

Es ging auch nichts anderes mehr als Nachzugeben, ohne alternativ die immerhin jederzeit mögliche Sowjetarmee wieder aufmarschieren zu lassen. Mit ungewissem Ausgang.

Das alles wollte Gorbatschev wohl wirklich nicht mehr. Was er wirklich tief im Inneren dachte, würden wir alle gerne wissen – wir werden es wohl nie erfahren. Auch nicht aus seinen Büchern und den Memoiren.

In Russland lehnt man Gorbatschev bis heute in 2022 immer noch grösstenteils ab, teilweise immer noch voller Hass, weil sein Name – wie kein zweiter Name – für den politischen und wirtschaftlichen Niedergang der früheren Sowjetunion steht. 

Und weil er an den Wodka der Russen wollte. Dieses hochemotionale Thema hatte er in seiner Bedeutung als preiswertes und notwendiges Wässerchen für das Volk total unterschätzt. Dem Volk, das nichts mehr hatte auch noch das «Opium» weg zu nehmen aber gleichzeitig nichts Sinnvolles hin zu geben, das ging schon mal gar nicht, seien seine Motive auch noch so edel. Die Russen haben ihn das richtig spüren lassen. Allfällige freie Wahlen hätte ein Gorbatschev damals nie überstanden.

Gorbatschevs Politik prägte im Grunde die Epoche, die mit dem Mauerfall in Berlin am 9. November 1989 beginnt und mit dem Ukrainekrieg und der Landnahme durch Putin in Jahr 2014 endet und so von den Historikern eingegrenzt wird.

Es ist erstaunlich, dass dieser Gorbatschev trotz allem so nachhaltig agieren konnte, wenn man bedenkt aus welchen Verhältnissen er entstammt und welchen Zwängen er sich als Nummer 1 und Generalsekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion immer wieder unterwerfen musste, wenn er sich nicht selbst in Gefahr bringen wollte. 

Mikhael Gorbatschev stammt aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen: er wurde 1931 in einem Dorf im Nordkaukasus geboren und wuchs in Südrussland auf. Er betonte immer mal wieder, dass sein Vater Russe und seine Mutter Ukrainerin gewesen seien. Man konnte irgendwo mal lesen, dass er später für seine provinzielle Aussprache des Russischen sogar belächelt worden ist.

Zum Rechtsstudium ging Gorbatschow nach Moskau ohne eine Ahnung zu haben, was ihm das wirklich bringen würde. Als junger Mann wurde er so unweigerlich zum überzeugten Stalinisten. Der Tod von Stalin im Frühjahr 1953 war für ihn ein erschütterndes Erlebnis, obwohl dessen Terror auch in seiner Familie gewütet hatte. In Gorbatschevs Studienzeit fällt auch die frühe Heirat mit Raissa Titarenko, die später als auf Auslandsreisen als elegante und weltgewandte First Lady dem verstaubten Image der Sowjetführer ohne Damenbegleitung ein Ende setzte.

Erst 2012 machte Gorbatschev auch eine private Tragödie öffentlich: sie mussten das erste Kind abtreiben lassen, weil Raissa Gorbatscheva an einer gefährlichen Herzkrankheit litt. Im Jahr 1957 kam dann die Tochter Irina zur Welt. 

Nach dem Studium begann Gorbatschev eine verhältnismässig steile Karriere im Parteiapparat. In Moskau nach dem Studium abgelehnt und in die Provinz daheim in die Landwirtschaft zur Feuerprobe geschickt, wurde man dann in Moskau wieder auf ihn aufmerksam. (Die Details dazu kann man in einschlägigen öffentlichen Quellen ganz gut nachlesen.)

Es gelang Gorbatschev in dieser Zeit, sich die Unterstützung des mächtigen KGB-Chefs und späteren Vorgängers im Amt des Staatspräsidenten Juri Andropow und des konservativen damaligen Chefideologen Michail Suslow zu sichern. 

Bereits sehr früh im Jahr 1971 wurde er zum Vollmitglied des Zentralkomitees «gewählt» und gehörte damit erst einmal zum inneren Kreis der Macht in der Sowjetunion. Als sehr hoher Parteifunktionär genoss er alle Privilegien der sowjetischen «Elite», die den Bürgern der Völker im sowjetischen Riesenreich ein Leben lang verwehrt waren. 

Er konnte als «Reisekader» auch ausgedehnte Reisen in das westliche Ausland unternehmen, wie z.B. nach Italien, nach Frankreich, in die Niederlande, nach Belgien und schliesslich auch in die damalige Bundesrepublik Deutschland, die in der damaligen DDR mit abschätzigem Unterton immer verkürzt «BRD» genannt wurde.

In den achtziger Jahren betrieb Gorbatschev seine Parteikarriere weiter. Die sowjetische Führungsclique war in dieser Zeit einfach nicht mehr fähig, die Ineffizienz der sowjetischen Planwirtschaft zu bekämpfen und beim Wettrüsten mit dem Klassenfeind USA und Westen auch weiterhin ökonomisch mitzuhalten. 

Ronald Reagans irre Vision vom Krieg der Sterne und der u.a. auch von einem gewissen Helmut Schmidt aus Hamburg gegen alle Widerstände und Demos beförderte NATO-Doppelbeschluss brachten die Sowjets dann in richtig existenzielle Nöte. Alles Geld, alles Wissen, alle Ressourcen gingen in das Wettrüsten. Der Westen rüstete die Sowjetunion und den Warschauer Pakt gleich mit quasi zu Tode. Das brachte Gorbatschev letztlich auch an den Verhandlungstisch. Die Macht des Faktischen.

Gorbatschev musste jetzt noch den Tod zweier uralter kranker Generalsekretäre der KPdSU abwarten, die vergleichsweise kurz im Amt waren und beide rasch das Zeitliche segneten. In Moskau waren einige Staatsbegräbnisse in Abfolge angesagt.

Dann aber in 1985 stieg Gorbatschev endlich selbst in die höchste Führungsposition der Sowjetunion auf. Die Wahl im Zentralkommitee der KP der UdSSR fiel überraschend auf ihn. 

Es war nun kein steinalter, mit einem Herzschrittmacher bestückter beratungsresistenter Greis an der Spitze dieses Riesenreiches, sondern ein Dynamiker von 54 Jahren. Mit einer gewissen medialen Ausstrahlung, die im Westen natürlich rasch bemerkt und wohl auch «hochgeschrieben» wurde. Weil sie neu war, eher unerwartet kam und alles so spektakulär war, was sich jetzt in Moskau und im Ostblock tat.

Gorbatschev stoppte dann zuerst den für die Sowjets ins sichere Verderben führenden höchst ruinösen Rüstungswettlauf mit den USA und der NATO.

Innenpolitisch konzentrierte er sich auf ein wirtschaftliches Programm, dass die Produktion von Gütern «beschleunigen» sollte. 

Ausserdem forderte er «Glasnost», also Transparenz über die politischen und gesellschaftlichen Missstände in seinem Riesenreich, dem er nun vorstand. Das war wirklich spektakulär. Für das eigene Volk und für die Welt.

Das Schlagwort der «Perestrojka» tauchte erst viel später auf und wurde nie so richtig akzentuiert und «ausgedeutscht». Wir wussten damals nicht, was er damit meinte, wie weit er gehen würde und welches die Meilensteine auf diesem Weg sein würden. Erst im Jahre 1987 – zwei Jahre vor dem Fall der Mauer in Berlin – als auch die DDR ökonomisch dahinsiechte, veröffentlichte Gorbatschow ein umfangreiches Buch über die «Perestrojka», in dem er sein Programm zu erklären versuchte. Das hat aber keiner wirklich verstanden. 

Es hat schon damals keiner so richtig kapiert: einerseits dieser Anspruch der alle Gesellschaftsteile umfassenden Modernisierung – die Strategie der totalen Erneuerung so zu sagen – und andererseits die Operationalisierung dieser Strategie mit so ziemlich abgedroschenen und rückwärtsgewandten, bereits allseits bekannten Reformvorschlägen, wie z.B. von den zwingend am Leben zu erhaltenden «leninistischen Prinzipien», über die vermeintlichen Vorzüge der bereits jahrzehntelangen erfolglosen Planwirtschaft bis hin zu der unbedingten aufrecht zu erhaltenden Führungsrolle der Kommunistischen Partei im Staat. Das funktionierte aber nicht. Das war ja erwiesen. Und vor allem Letzteres, die Macht der KP war vielen Leuten ein Dorn im Auge. Die Leute in der Sowjetunion wollten das nicht mehr.

Wie sollte das mit einer Erneuerung überhaupt zusammengehen? Die Leute hatten von diesen immergleichen Worthülsen länger schon die Nase voll, sahen auf ihren leider nur in Gruppen möglichen Reisen in das sozialistische Ausland – den Ostblock – den vergleichsweise höheren Lebensstandard in den kleineren Bruderländern, fingen an unbequeme Fragen zu stellen und kippten sich – kulturell weit verbreitet – und regelmässig praktiziert, ihren preiswert gekauften oder später selbstgebrannten Wodka aus Kummer oder Trunksucht hinter die Binde. Ein echtes Problem für Gorbatschev, wie sich später herausstellte, als er den Wodkakonsum stark einschränken, regulieren und auf jeden Fall verteuern wollte.

Gorbatschev muss selber wirklich an seine Vision, seine Strategie des Umbaus und die Schritte des Umbaus der ganzen Sowjetunion geglaubt haben. Woher soll er sonst die Kraft gewonnen haben sich jeden Tag ins Büro zu begeben, die Geheimdienstberichte zu lesen, sich seiner Widersacher und Feinde zu erwehren. Genau diese Vision von ihm war aber auch seine grösste Illusion, nämlich, dass er wohl bis zuletzt an der Reformierbarkeit des sozialistischen Gesellschaftssystems festgehalten hat.

Seine Bewunderung für den Revolutionsführer Lenin zieht sich z.B. durch alle seine Reden. Seinen Amtsantritt als Generalsekretär der KPdSU stellte er prominent unter das Zeichen von «Lenins Lehre», die er mal als «Handlungsanweisung» und mal als «Kompass» bezeichnete. 

Sogar die diktatorisch anmutende Forderung von Lenin nach der «Parteilichkeit der Presse und der Medien», also die Forderung nach der Gleichschaltung der Medien – Internet gab es damals noch nicht – übernahm Präsident Gorbatschev von Lenin.

Ganz im Geiste von Lenin hielt er auch die Nationalitätenfrage im Vielvölkerstaat Sowjetunion für ausreichend gelöst. Er sollte sich da richtig irren und weiter verirren!

Es waren nicht nur diese Dinge, die er «gucken lies» und worüber genauer hinsehende nüchterne Betrachter im Westen dann nur noch den Kopf schüttelten:

Er pries z.B. die Menschen-Schlächter der Roten Khmer als «kambodschanische Patrioten» an, er hob die Verbannung des Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow voller Absicht erst sehr verspätet auf, obwohl er die Macht dazu schon früh gehabt hätte, er verurteilte nie wirklich die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in der damaligen Tschechoslowakei durch die einmarschierte Sowjetarmee, er beteiligte sich aktiv an der Verharmlosung des Abschusses eines südkoreanischen Passagierflugzeugs mit hunderten Toten, er wandte sich erst knapp drei Wochen nach der ganz Europa schädigenden  Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in 1986 in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung der Sowjetunion und die Länder Europas und  er verleugnete – wohl wider besseren Wissens, denn er als Präsident hatte den Schlüssel zu den Geheimarchiven der Sowjetunion – die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt. 

Alles nachlesbar und beweisbar.

In Deutschland wird Gorbatschev – wie oben erwähnt – auch heute immer noch über alles verehrt und nicht selten zur Lichtgestalt verklärt. Die Leute sind emotional angefasst, weil er ihr Leben stark beeinflusst hat.

Das hängt primär wohl alles mit seinem «Ja» zur deutschen Einheit zusammen, denn Margareth Thatcher, Francois Mitterrand und fast alle anderen Politiker in Europa waren nicht nur inoffiziell gegen ein vereintes grösseres Deutschland sondern machten offen Front gegen Kohls und Genschers Visionen von der deutschen Wiedervereinigung. 

Ausgeblendet wird dabei aber fast immer, dass Gorbatschev ganz grundlegende Fragen immer nur unter gewissen echten Zwängen und in unguten Lagen entschied, er nie ins Büro fuhr und aus Langeweile beschloss hehre Ziele zu verfolgen. Er war druckgesteuert.

Und mit Idee der Reformierbarkeit der sozialistischen Planwirtschaft, die er wohl wirklich aus innerer Überzeugung verfolgte, hatte er einen ständigen Floh im Ohr.

Was sein immerwährender Verdienst ist und im kollektiven Gedächtnis der Menschheit ewig bestehen bleibt, sind seine Worte und seine folgenden Taten bei der proaktiven Abrüstung und bei der proaktiven Beendigung des kalten Krieges zwischen Ost und West. Da hat er von sich aus Nägel mit Köpfen gemacht und das gut im Westen verkauft und sein Volk etwas entlastet. Sicher nicht zur Freude des amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes, die als Kapitalisten neue Wachstumsfelder zwingend erdenken und erschliessen mussten.

Auch verzichtete er als Staatspräsident der UdSSR darauf, das logische Auseinanderfallen seines Vielvölkerstaates Sowjetunion mit den vielen die Sowjetherrschaft überdauernden Kulturen durch den immerhin jederzeit möglichen Einsatz seiner Sowjetarmee zu stoppen. 

Der Kernstaat Russland hatte so z.B. überhaupt erst mal eine Chance für eine demokratische, rechtsstaatliche und eine freiheitliche Entwicklung. Auch das war ein Ergebnis von Gorbatschevs Regentschaft. Ein Jelzin erkannte die Chance seines Lebens, damals wohl noch nicht so versoffen uns stieg ohne zu torkeln auf den Panzer als man Gorbatschev wegputschen wollte, als dieser sich drei Wochen Auszeit auf der Datscha auf der Krim in der Ukraine nahm.

Den späten russischen Überfall auf die souveräne Ukraine nahm wohl er als Zerstörung seines Lebenswerks wahr. Öffentliche Äusserungen dazu sind sehr sparsam und im Grunde unklar.

Was er mit dem Präsidenten Putin an dessen berüchtigten Katzentisch vor Putins Schreibtisch bei seinen Besuchen im Kreml oder auf Putins Landsitz in Nowo Ogarjowo besprach seit der Landnahme in der Ukraine in 2014 wissen wir nicht. Es gibt nur Fotos von solchen Treffen aber keine Aussagen über die Gespräche, ausser die Floskel eines Gedankenaustausches.

Wladimir Putin wird es uns die Wahrheit dazu auch nicht sagen wollen. Er wind sich weiter in die Abgründe seiner Psyche verstricken und er wird vermutlich irgendwann sehr sehr spät den «Heldentod» im Gefecht mit seinem eigenen Geheimdienst sterben, der langsam wohl nicht mehr weiss, wie man den zunehmend ungeliebten Langzeitherrscher noch anders elegant loswerden könnte. 

Der schon bei einfachen Meinungsverschiedenheiten in Putins Gefolgschaft traditionell zum Zuge kommende Gifteinsatz scheidet hier wohl aus, da der Präsident seine Mahlzeiten immer vorkosten lässt, wohl einige Doppelgänger von sich hat Motten sind eben mehrfach unterwegs, sie sind widerstandsfähig und erreichen ein hohes Dienst-Alter wenn sie immer kontinuierlich zu fressen haben. 

Putins kaltes Herz erlaubt es ihm angesichts des Todes des schon eine lange Zeit nicht mehr einflussreichen Ex-Präsidenten Gorbatschev nicht, über den eigenen Schatten zu springen. 

Mehr als der offizielle Besuch am offenen Sarg von diesem im Krankenhaus und ein Foto davon – über AP in die Medienpipeline gebracht – war wohl nicht drin.Â

 

Das übliche und angemessene Staatsbegräbnis für den ersten, nun auch weltweit geschätzten letzten Präsidenten der nachgetrauerten Sowjetunion ist erst recht nicht drin. 

Foto: AP

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