Man kann’s auch übertreiben

Auszeit mit

Das Schweizer Fernsehen reagiert auf die Aktualität und schaltet ein Spezialprogramm. Die «Tagesschau» widmet – eben dieser Aktualität – nicht weniger als drei Beiträge und mehr als die halbe Sendezeit. Es folgt eine fast zweistündige Sondersendung. Und dann sendet «10 vor 10» noch einmal eine fast 15-minütige Huldigung. Nein, natürlich nicht für die eben verstorbene englischen Königin Elisabeth II., sondern für den Schweizer Tennis-Profi Roger Federer, der – als die Welt gerade traurig nach Grossbritannien blickte – seiner «Community» verkündete, jetzt doch nicht mehr auf die Tour zurückkehren zu wollen. Das lädierte Knie – es lässt Sport auf allerhöchstem Niveau nicht mehr zu. Für wirkliche Kenner des Sports und seiner Mechanismen konnte das allerdings keine Neuigkeit mehr sein.

Die Fangemeinde indessen vergiesst bittere Tränen. Man fragt sich nur, warum eigentlich?

Als wollte er seinen Marktwert noch einmal im Vergleich mit einer wirklichen Ikone des Weltgeschehens (der Queen nämlich) testen, wählte «RF» – oder einer seiner PR-Buddies – den Termin von «Maestros» last Goodbey just einen Tag nach dem Ableben der 96-jährigen Monarchin.

Honni soit qui mal y pense…

Und – die Schweizer Monopol-Fernsehanstalt springt doch tatsächlich darauf an. Versammelt alle bei ihr in Lohn und Brot stehenden Halbwegs-Federer-Vertraute und zieht eine Abschieds-Show ab, die sich gewaschen hat. Was die BBC mit Elisabeth II. – nach einem 70-Jahre-Regnum und 96 Jahren in den Diensten der englischen Krone notabene –  aufführt, erscheint im Vergleich mit den Schweizer Abgesängen auf «King Roger» wie ein Kindergeburtstag.

Immerhin, «Rodschie», wie Mamma Lynette ihren Sohn auch heute noch liebevoll nennt, ist nur zurückgetreten und nicht gestorben! Das mag uns beruhigen. Es lässt auch die Frage zu, ob der helvetische Ausbund an Anstand, Stil und Pflichtbewusstsein nun als Nächstes zuerst den Ukraine-Krieg, die Klimakrise oder das Energieproblem lösen wird. Man traute ihm etwaige Interventionen abseits des Tennisplatzes jedenfalls durchaus zu.

Ernsthaft: Federer war ein einzigartig begnadeter und erfolgreicher Tennisspieler und (bestimmt auch jetzt noch) der beste Botschafter, den die Schweiz im Allgemeinen und der Sport im Speziellen je hatten. Aber den richtigen Umgang mit ihm haben wir irgendwie nie richtig gelernt. Weder bei seiner Krönung noch bei seinem Abschied vom Thron!

Das furchtlose Auftreten des nicht eben lauten Baselbieters auf der Weltbühne des Tennis überforderte des Schweizers Sport-Selbstverständnis. Lange wurde Federer sogar eher verkannt. Jede Bronzemedaille an einer Ski-Weltmeisterschaft brachte das Fan-Herz mehr in Wallung als ein Grand-Slam-Titel. Man erinnere sich nur an die Wahl zum Schweizer Sportler des Jahres 2005. And the winner was… der Motorradfahrer Tom Lüthi! Da hatte das Wahlgremium die Hosen offenbar gestrichen voll und wagte nicht, Roger Federer den Award nach 2003 und 2004 ein drittes Mal in Folge zuzusprechen. Denn, es gab wahrlich keinen stichhaltigen Grund, den Berner Achtelliter-Töff-Weltmeister dem in jenem Jahr zweifachen Grand-Slam-Gewinner (Wimbledon, US Open) und 11-fachen ATP-Turniersieger vorzuziehen. Aber, Federers Auftritte auf der Weltbühne überforderten die kleine Schweiz und ihre Öffentlichkeit, die Königen und anderen Überfliegern stets schon misstrauten.

Federer drehte seinem Heimatland daraus nie einen Strick. Der hochdekorierte Kosmopolit klagte nie. Er betonte immer seine Normalität und seine Swissness. Seine Tränen versteckte er nie – nach Grosserfolgen ebenso wenig wie nach bitteren Niederlagen. Immer stand er wieder auf… und gewann noch mehr Titel. Seine Eloquenz und Vielsprachigkeit liessen jedermann mitfühlen, sein Schweizerdeutsch machte ihn zu einem «von uns». Roger Federer wurde über die Jahre zu everybody’s darling.

Damit könnte es jetzt vorbei sein.

Aller epischer medialer (und nicht selten übertriebener) «Roger-Nachrufe» zum Trotz: sein Abgang lässt sich durchaus auch als Erlösung sehen. In jüngster Vergangenheit dauerverletzt, muss insbesondere «RF» selbst sein Ende als Profi als Erleichterung empfinden. Seine Familie tut das ganz gewiss auch.

Aber auch wir können gut ohne Roger Federer leben. Wie haben wir an dieser jahrelangen Überdosis Roger in Film, Funk und Fernsehen gelitten. An diesem exzessiven Sponsoring. Werbung für Uhren, Champagner, Schokolade. Ein Federer-Lächeln von allen Plakatwänden, nirgends ist man vor ihm sicher. Und wir fragten uns: Hat er denn nie genug? Auch hatte man zunehmend Mühe, die bescheidenen Auftritte von ihm mit seinem Verhalten in eigener Sache zu versöhnen. So schien ihn die politische Situation in seinem Zweitwohnsitz Dubai ebenso wenig zu kümmern wie der Umstand, dass er mit seiner neuen Villa einen der letzten freien Flecken am Zürichsee besetzt. Dass der «Schweizer des Jahres 2003» für Kleiderkonzerne wie «Nike» und «Uniqlo» wirbt, deren Arbeitsbedingungen miserabel sind, klingt ebenfalls unsympathisch, aber damit steht Federer nicht alleine da. Wir Konsumentinnen und Konsumenten sind da keineswegs konsequenter…

Am meisten aber störte einen wirklich die Überpräsenz. Roger hier, Roger da – befeuert von den absolut unkritischen Medien. Ein «overload» der ganz besonderen Art. Und eigentlich immer übertrieben. Roger Federer trat – seine Qualität eben – bescheiden auf. Die weltweite Berichterstattung über ihn wirkte masslos. Das Theater von Fernsehen SRF nach seiner Rücktritts-Ankündigung war der beste Beweis dafür. Wie die Reaktionen auf Federers «Abgang» – auch ganz speziell jene der Leutschenbacher TV-Gurus zeigen, verwandelte sich die obrigkeitsfeindliche Alpenrepublik über die Jahre sogar in eine Art Monarchie unter König Roger I. Wahrscheinlich gibt es tatsächlich nur einen, der die Schweiz retten könnte, falls unser politisches System jemals auseinanderbrechen sollte.

Aber… ob nicht auch das etwas gar übertrieben ist?

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