Der Philosoph aus dem Schwarzwald

Auszeit mit

Nun sind die USA im Fussball weiss Gott nicht das Mass aller Dinge. Zumindest in jenem nicht, der im Wörterbuch mit «Soccer» übersetzt wird. Im Ranking medialer Berichterstattung und öffentlicher Aufmerksamkeit muss er sich mit einem Platz irgendwo in der Bedeutungslosigkeit zwischen Kirschenstein-Weitspucken und Frisbee-Kunstwerfen zufriedengeben. Obschon seit der Gründung der «Major League Soccer» – zwei Jahre nach der FIFA-Weltmeisterschaft 1994 auf nordamerikanischem Boden –   das Land zwischen Pazifik- und Atlantikküste zur Lieblingsdestination ausgedienter europäischer Fussball-Millionäre geworden ist, der sportliche Wert der US-Meisterschaft bleibt überschaubar. Zugedeckt vom mächtigen Schatten der NFL (National Football League), der NBA (National Basketball Association), der NHL (National Hockey League) und der MLB (Major League Baseball). Man lasse sich nur schon mal die Jahres-Statistiken der Zuschauerzahlen in den vier bedeutendsten amerikanischen Meisterschaften auf der Zunge zergehen: Baseball, die meistbesuchte Sportliga der Welt, meldet konstant 70 Millionen Zuschauer pro Saison! 22 Millionen sind es beim Eishockey, 19 Millionen beim Football und 17 Millionen beim Basketball. Knapp 3 Millionen Fans wollen Fussball sehen.

Die US-Sportstars heissen Kobe Bryant Basketball), Tom Brady (Football), Dany Heatley (Eishockey) oder David «Big Papi» Ortiz (Baseball). Sie beherrschen die Sport-Schlagzeilen. Für Lorenzo Insigne (Italien, Toronto FC), Gonzalo Higuain (Argentinien, Inter Miami) oder Xherdan Shaqiri (Schweiz, Chicago Fire) bleiben im besten Fall ein paar müde Sidelines. Wenn schon Fussball in den Staaten, dann Frauen-Fussball. Megan Rapinoe, die Spielführerin der Nationalmannschaft, Abby Wambach, mit 184 Toren Rekordtorschützin der US-Girls oder Kristine Lilly, 354-fache Nationalspielerin laufen hinsichtlich Popularität sämtlichen ihrer männlichen Kollegen den Rang ab. Und das deutlich. Dennoch, Fussball findet als Medienereignis nicht statt.

Stimmt nicht ganz. Vor knapp zwei Jahren (im Juni 2020) erscheint die einflussreiche und renommierte «New York Times» mit einem überraschenden Aufmacher: The Teachings of the Philosopher oft he Black Forest  leitet einen ausführlichen Artikel über Christian Streich, den «Philosophen aus dem Schwarzwald», ein. Der Trainer des Bundesligisten SC Freiburg gross aufgemacht in der «New York Times», mehr geht für einen Fussballer in den Staaten nicht. Das kommt einem Ritterschlag gleich. Rory Smith, Fussball-Fachmann und Autor des Textes, hebt in dem beeindruckenden «Aufsatz» zu einer richtiggehenden Lobrede an und bemerkt: «Christian Streich fungiert als inoffizielles soziales Gewissen des deutschen Fussballs.» Ja, Christian Streich, nicht Jupp Heynckes, nicht Jürgen Klopp, und nicht Joachim Löw… Streich, der bescheidene Südbadener aus Eimeldingen – gleich hinter der Grenze bei Weil am Rhein. Ein halber Basler, sozusagen. Der Sohn eines Metzgers, der mit 19 Jahren eine Berufsausbildung zum Industriekaufmann erfolgreich abschloss, mit 25 auf dem zweiten Bildungsweg am Kolping-Kolleg in Freiburg die Matura nachholte, und anschliessend ein Lehramtsstudium in Germanistik, Geschichte und Sport absolvierte.

Rory Smith zeichnet ein ausgezeichnetes Bild vom aktuell dienstältesten Bundesligatrainer, der seit Januar 2012 Chef an der Seitenlinie des SC Freiburg ist. Er erwähnt, dass jeder grosse Philosoph ein Paradox habe, und zitiert den 57jährigen: «Ich habe einen Sohn. Er ist 10. Er liebt Fussball – natürlich. Was könnte er auch anderes tun? Der Arme. Wenn das Spiel zu Ende ist, oder in der Halbzeit, drehe ich den Fernseher ab. Ich versuche, Fussball auf das Spiel zu reduzieren. Ich kenne viele Leute, die dasselbe tun. Sie schauen keine Werbung. Und sie hören sich auch die Kritik von Menschen nicht an, die das Spiel nicht verstehen oder immer negativ sind.»

Der Seitenhieb auf all die «Experten», die sich in den Studios der TV-Anstalten tummeln und meinen, gescheit reden zu müssen, sitzt. Streich würde dasselbe allerdings auch geradeaus ins Gesicht eines Journalisten sagen. So ist er, der Christian von der Dreisam, offen, direkt, unmissverständlich. Und erfolgreich dazu. Eben führte er seine Mannschaft als Meisterschafts-Sechsten an die europäischen Honigtöpfe (Europa League). Und der Weg ist noch nicht zu Ende. Der führt am kommenden Samstag noch nach Berlin, zum – wie es in der Hochsprache heisst – Pokal-Endspiel. Der Gegner dort: die «Bullen» aus Leipzig. Der fussballerische Gegenentwurf zum Freiburger SC. Von «Red-Bull-König» Mateschitz mit einem 68-Millionen-Budget zum Bayern-Jäger aufgeblasen und quer über den Globus zusammengekauft. Identifikation: zero. Streichs Freiburg kommt mit 16 Millionen aus – und mit dem Rückhalt von ganz Südbaden. Mutet fast anachronistisch an, wie man in Freiburg Fussball versteht. Volker Finke, von 1991 bis 2007 selbst Übungsleiter an der Dreisam, umschreibt es so: «Die Welt des Fussballs ist eine völlig neue geworden und dennoch hat es der SC (Freiburg, Anm. des Autors) geschafft, sich treu zu bleiben. Ich kann dem Club nur wünschen, dass ihm Leute wie Christian Streich noch lange erhalten bleiben.»

Klar, das würde auch jeder SC-Fan vorbehaltlos und sofort so unterschreiben. Christian Streich wird in Freiburg geliebt. Von seinen Spielern ebenso wie vom Publikum.

Er wird schon deshalb nie einen Wechsel in den amerikanischen Fussball ins Auge fassen.

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