Sozialhilfe in der Gemeinde Pratteln und Interview mit Gemeinderat Marcial Darnuzer

0

Wir alle sind gegen Risiken wie Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit versichert. Und die meisten von uns haben eine Altersvorsorge. Das verdanken wir den Sozialversicherungen. 

Die Sozialversicherungen decken aber nicht alle Risiken ab. Wenn zum Beispiel nach einer Scheidung das Geld nicht reicht, gibt es keine Leistungen einer Sozialversicherung. Ebenso wenig, wenn nach langer Arbeitslosigkeit Ansprüche auf Arbeitslosengelder enden und das Vermögen zur Neige geht.

Die Sozialhilfe braucht es dort, wo Lücken im System der sozialen Sicherung bestehen. Sozialhilfe bewahrt Menschen in Notsituationen vor Armut, Verelendung und Ausgrenzung. Die Sozialhilfe trägt so wesentlich zum sozialen Frieden in der Schweiz bei und garantiert, dass alle Personen menschenwürdig leben können. 

Über 270’000 Menschen beziehen in der Schweiz Sozialhilfe. Die Sozialhilfe ist wie oben erwähnt das letzte Netz, wenn jemand keine Arbeit mehr findet, alles Vermögen aufgebraucht ist und keine der sonstigen Sozialversicherungen zuständig ist.

Für die Ausgestaltung der Sozialhilfe sind in der Schweiz die 26 Kantone zuständig. Um die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit über die Kantonsgrenzen hinweg zu fördern, hat die SKOS ihre Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe – kurz SKOS-Richtlinien – geschaffen. 

Die SKOS-Richtlinien sind reine Empfehlungen zur Ausgestaltung der Sozialhilfe zuhanden der Kantone, der Gemeinden sowie privater Hilfsorganisationen. Sie bieten aber Gewähr für mehr Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit bei der Bemessung von Unterstützung und anderen Massnahmen zur beruflichen und sozialen Integration.

Die SKOS entwickelt die Richtlinien gemeinsam mit den Kantonen, Gemeinden, Städten und privaten Hilfsorganisationen. Diese Richtlinien werden von der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen und- Sozialdirektoren (SODK) verabschiedet und den Kantonen dann zur Anwendung empfohlen. Sie werden erst durch die kantonale Gesetzgebung und die kommunale Rechtsetzung und -sprechung verbindlich.

Die SKOS-Richtlinien werden regelmässig revidiert und damit den aktuellen Anforderungen angepasst. Die jeweiligen Anpassungen sind eher breit abgestützt. An der letzten dreijährigen Revision wirkten fast 100 Personen aus den SKOS-Gremien, aus der Wissenschaft und aus der Praxis mit. Der nächste Revisionszyklus läuft bereits.

SKOS-Richtlinien sind für Sozialdienste und Sozialbehörden ein wichtiges Arbeitsinstrument. Obwohl es sich um reine Empfehlungen handelt, werden sie von den meisten der 26 Kantone angewendet. Die SKOS-Richtlinien gelten in der schweizerischen Sozialpolitik und in der Gerichtspraxis als verbindliche Richtgrösse. 

Wer Sozialhilfe bezieht, muss alles ihm beziehungsweise ihr Mögliche zur Behebung der Notlage tun. Es besteht eine Pflicht zur Suche und Annahme einer Arbeit oder zur Mitarbeit in einem Beschäftigungsprogramm. Wenn eine unterstützte Person anhaltend ihre Pflichten verletzt, werden die Leistungen schrittweise gekürzt. Sozialhilfeleistungen müssen zurückbezahlt werden, wenn dies die finanziellen Verhältnisse zulassen. 

Der Grundbedarf für den Lebensunterhalt in Privathaushalten (Einzelpersonen oder familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaften) umfasst die folgenden Ausgabenpositionen: Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren, Bekleidung und Schuhe, Energieverbrauch (ohne Wohn-Nebenkosten), allgemeine Haushaltsführung, persönliche Pflege, Verkehrsauslagen (örtlicher Nahverkehr), Nachrichtenübermittlung, Internet, Radio/TV, Bildung, Freizeit, Sport, Unterhaltung, Übriges. 

Detaillierte Informationen bieten die Empfehlungen zum  SKOS-Warenkorb und die Empfehlungen der SKOS-Richtlinien.

Die Anpassung dieses Grundbedarfs für den Lebensunterhalt an die Preis- und Lohnentwicklungen erfolgt gemäss den SKOS-Richtlinien im gleichen prozentualen Umfang wie die Anpassung der Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, spätestens mit einem Jahr Verzögerung.  Aktuell empfiehlt die SODK für 2022 einen Grundbedarf (GBL) von CHF 1.006 monatlich für einen Einpersonenhaushalt. 

Der Grundbedarf für den Lebensunterhalt (GBL) wird als Pauschalbetrag ausbezahlt. Unterstützte Personen haben das Recht, den Pauschalbetrag selbst einzuteilen und die Verantwortung für ihre individuelle Existenzsicherung zu übernehmen. Insbesondere sind unterstützte Personen bei ihrem Ausgabeverhalten nicht an jene Gewichtung gebunden, die den Positionen des Warenkorbs durch die SKOS gegeben wird. Diese Gewichtung gibt nicht vor, wie viel Geld für die einzelnen Positionen ausgegeben werden darf. Die Gewichtung des SKOS-Warenkorbs darf auch nicht verwendet werden, um die Dispositionsfreiheit von unterstützten Personen einzuschränken. 

Berechnung des SKOS-Warenkorbs 

Die Höhe des GBL orientiert sich an einem eingeschränkten Warenkorb an Gütern und Dienstleistungen des untersten Einkommensdezils, d.h., der einkommensschwächsten zehn Prozent aller Schweizer Haushaltungen. Die Berechnung erfolgt auf Grundlage der Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamts für Statistik (BFS). Das Büro BASS hat die Gewichtung des Warenkorbs im Januar 2019 auf Basis der Daten von 2009 -2014 im Auftrag des SKOS aktualisiert. Zuvor erfolgte 2015 die Berechnung durch das BFS auf Grundlage derselben Daten. 

Warenkorb in der Unterstützungspraxis

Der SKOS-Warenkorb und die Gewichtung der darin vorgesehenen Positionen können verständlicherweise nicht allen Lebenssituationen gerecht werden. Angaben zur Gewichtung des SKOS-Warenkorbs sind aber hilfreich, damit die Unterstützung im Rahmen des Individualisierungsprinzips noch angepasst werden kann. 

So ist der Warenkorb für Personen in Haushalten gedacht, weshalb er sich in gewissen Fällen nicht ohne Weiteres auf unterstützte Personen in Institutionen oder auf solche ohne festen Wohnsitz anwenden lässt. Solche besonderen Wohnformen können dazu führen, dass gewisse Kosten nicht anfallen (z.B. keine Nebenkosten in Gästehäusern) oder dass andere Auslagen erhöht sind (z.B. höhere Ernährungskosten bei fehlender Kochgelegenheit). Diese Umstände sind zu berücksichtigen, indem der GBL bedarfsmässig reduziert oder mit situationsbedingten Leistungen (SIL) ergänzt wird. 

Bei diesen SIL ist zu beachten, dass im GBL bereits gewisse Leistungen enthalten sind (z.B. Auslagen für den öffentlichen Nahverkehr). Die betreffenden Beträge aus dem GBL sind nicht zusätzlich zu vergüten, sondern bei der Leistung von SIL in Abzug zu bringen. 

Positionen und Richtgrössen im Warenkorb

  • Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren 41.3 %: Nahrungsmittel zuhause, Zuhause und auswärts eingenommene alkoholfreie und alkoholische Getränke, Tabakwaren
  • Bekleidung und Schuhe 9.8%: Alltags-, Sport- und Arbeitskleider, Schuhe 
  • Energieverbrauch (ohne Wohnnebenkosten) 4.7%: Elektrizität, Gas und andere Brennstoffe 
  • Allgemeine Haushaltsführung 4.2%: Reparaturen, Unterhalt der Wohnung, Laufende Haushaltsführung, Haushaltswäsche und Heimtextilien, Haushalts- und Küchengeräte 
  • Persönliche Pflege 9.6%: Persönliche Ausstattung, Pharmazeutische Produkte resp. selber bezahlte Medikamente, Apparate und Artikel für die Körperpflege, Sanitätsmaterial, Coiffeur 
  • Verkehrsauslagen (örtlicher Nahverkehr) 6.1%: Billette Bahn, Tram, Bus, Halbtax, Velo-Ersatzteile 
  • Nachrichtenübermittlung, Internet, Radio/TV 8.8%: Nachrichtenübermittlung, Radio- & Fernsehkonzession, Audiovisuelle-, Foto- und EDV- Ausrüstung und Zubehör (Drucker etc.) 
  • Bildung, Freizeit, Sport, Unterhaltung 13.3%: Bücher, Presseerzeugnisse, Papeteriewaren, Dienstleistungen für Sport, Erholung und Kultur (inkl. Vereinsbeiträge), Spielzeug, Gesellschaftsspiele und Freizeitgestaltung, Haustiere & Produkte für deren Haltung 
  • Übriges 2.2%: Finanzielle Dienstleistungen (z.B. Gebühren für Kontoführung), Geschenke und Einladungen

Die Ausgestaltung der Sozialhilfe in Pratteln 

Laut dem Geschäftsbericht der Gemeinde zu 2020 mussten sich trotz des Corona-Jahres im Jahr 2020 weniger Personen bei der Sozialhilfe anmelden. Jedoch konnten auch nicht mehr Personen als im Vorjahr abgemeldet werden, da der Einstieg in den Arbeitsmarkt durch Corona erschwert war. Nach wie vor machen Kinder und Jugendliche mit einem Anteil von 32.04% den grössten Teil der sozialhilfebeziehenden Personen aus. Insgesamt wurden im Jahr 2020 weniger Gesuche für Sozialhilfe gestellt. Die Anzahl der Fälle und unterstützte Personen ist leicht zurückgegangen. Ebenfalls ist der prozentuale Anteil an ausländischen Personen sowie an jungen Erwachsenen zurückgegangen. Es gab einen leichten Anstieg an Personen, die länger als 3 Jahre in der Sozialhilfe sind. Die Anzahl der Personen mit Teillohnarbeit konnte jedoch gesteigert werden. Die Rückerstattung an den Bruttokosten konnte ebenfalls gesteigert werden. 

Grundbedarf für den Lebensunterhalt (GBL):

Junge Erwachsene (bis 25) monatlich CHF 763.00

1 Person CHF 997.00

2 Personen CHF 1.525.00

3 Personen CHF 1.854.00

4 Personen CHF 2.134.00

5 Personen CHF 2.413.00

Übernahme von angemessenen Wohnkosten:

Von unterstützten Personen wird erwartet, dass sie in günstigem Wohnraum leben. Kinder haben nicht grundsätzlich Anspruch auf je ein eigenes Zimmer. Anzurechnen sind die Wohnkosten nach den örtlichen Verhältnissen, inklusive der mietrechtlich anerkannten Nebenkosten.

Überhöhte Wohnkosten sind nur so lange zu übernehmen, bis eine zumutbare günstigere Lösung zur Verfügung steht. Kündigungsbedingungen sind in der Regel zu berücksichtigen.

Bevor ein Umzug verlangt wird, ist die Situation im Einzelfall zu prüfen. Insbesondere zu berücksichtigen sind:

  • die Grösse und Zusammensetzung der Familie
  • allfällige Verwurzelung an einem bestimmten Ort
  • Alter und Gesundheit der unterstützten Personen
  • der Grad ihrer sozialen Integration.

Wird die Suche nach einer günstigeren Wohnung oder der Umzug in eine verfügbare und zumutbare günstigere Wohnung verweigert, dann besteht kein Anspruch auf Übernahme des überhöhten Teils der Wohnkosten. Wenn unterstützte Personen nachweislich nicht in der Lage sind, eine Wohngelegenheit zu finden, unterbreitet das Sozialhilfeorgan Angebote zur Notunterbringung.

Wohnungskostengrenzwerte in der Gemeinde Pratteln:

Junge Erwachsene bis 25 monatlich CHF 550.00 + Nebenkosten

1 Person CHF 800.00 + Nebenkosten

2 Personen CHF 1.000.00 + Nebenkosten

3 Personen CHF 1.200.00 + Nebenkosten

4 Personen CHF 1.400.00 + Nebenkosten

5 Personen CHF 1.500.00 + Nebenkosten

6 Personen CHF 1.600.00 + Nebenkosten

Übernahme von Krankenkassenprämien:

Die durchschnittliche Krankenkassenprämie für Erwachsene beträgt in der Grundversicherung in der Prämienregion 1 90% von monatlich CHF 545.00 und in der Prämienregion 2 90% von monatlich CHF 507.00. Die in dieser ebenfalls pro Kopf bezahlten KVG-Prämie generell nicht versicherbaren notwendig werdenden Zahnbehandlungen werden vom Sozialamt nur individuell pro Person bezahlt, wenn die zugewiesenen Zahnärzte aufgesucht werden. Luxussanierungen auf Kosten der Steuerzahler sind dabei natürlich ausgeschlossen.

Interview mit Marcial Darnuzer (SP), seit dem 31. Juli 2020 Gemeinderat in Pratteln

Welche Personen melden sich primär bei der Sozialhilfe an?

Die Sozialhilfe unterstützt Personen und Familien, deren monatliches Einkommen unter einer bestimmten Grenze liegt. Dieses waren in Pratteln häufig Familien mit Kindern, alleinerziehende Elternteile und ihre Kinder, aber auch alleinstehende Personen.

Ist die Anmeldezahl stabil in den letzten Jahren geblieben, welche Tendenz gibt es?

In den Jahren 2020 und 2021 ist die Zahl der Unterstützungsfälle wider Erwarten zurückgegangen. Dies lässt sich auf den Ausbau der vorgelagerten Leistungen der Arbeitslosenversicherung sowie auf den raschen wirtschaftlichen Aufschwung zurückführen.

Vor der Corona-Pandemie allerdings war die Tendenz noch klar steigend.

Wie viele Menschen bezogen im letzten Jahr 2021 Sozialhilfe in Pratteln?

Im Jahr letzten Jahr 2021 hatten wir 787 Personen, die in Pratteln mit materieller Sozialhilfe unterstützt wurden.

Wie verlief und verläuft der Anmeldeprozess in Corona-Zeiten?

In den letzten beiden Corona-Jahren fand der Anmeldeprozess mehrheitlich telefonisch statt. Wo dies nicht möglich ist, z. B. aufgrund der Sprache finden weiterhin persönliche Gespräche statt.

Wie lange dauert ungefähr der Anmeldeprozess bis zur erstmaligen Ausrichtung der Leistungen?

Für die Abklärung eines Anspruches auf Sozialhilfe benötigen wir sehr viele verschiedene Dokumente und Informationen. Dies nimmt im Normalfall sehr viel Zeit in Anspruch. Deshalb ist die Dauer bis zur ersten Auszahlung sehr unterschiedlich. Das kann von wenigen Tagen bis mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Da haben wir ein Riesenspektrum.

Wie läuft die Triage zu den anderen Ämtern und Sozialversicherungen?

Unsere Mitarbeitenden sind im Rahmen der Fallaufnahme und Fallführung im regelmässigen Austausch mit den anderen Stellen und verweisen unsere Klienten an die richtigen Stellen.

Wie stehen Sie zum Einsatz von Sozialdetektiven?

In Pratteln werden Sachverhaltsabklärungen gemacht indem die Wohn- und Familienverhältnisse vor Ort abgeklärt werden. Dafür finden bei jeder Neuaufnahme – und manchmal auch während der Unterstützung – Hausbesuche statt.

Warum orientiert sich Pratteln beim Grundbedarf nicht an den SKOS-Empfehlungen?

Das Sozialhilfegesetz ist ja in der kantonalen Hoheit. Der Kanton Basel-Landschaft orientiert sich an den SKOS-Richtlinien, weicht aber stellenweise auch davon ab.

Wie entwickeln sich die übernahmefähigen Wohnkosten – gibt es da eine Tendenz?

Die Wohnkosten steigen. 

Was gibt es sonst noch an Neuigkeiten im Bereich der Sozialhilfe in Pratteln? 

In der Verwaltung wurden im Bereich Sozialhilfe zwei neue Stellen geschaffen. Es sind dies die Fachstelle Arbeitsintegration und die Fachstelle Subsidiarität/Revision. Von diesen beiden Stellen erhoffen wir uns langfristig tiefere Sozialhilfekosten respektive eine Steigerung der Einnahmen.

Die Fachstelle Arbeitsintegration kümmert sich um die Vermittlung von sozialhilfebeziehenden Personen in den ersten Arbeitsmarkt, ermöglicht gewissen Personen eine Tagesstruktur oder sorgt für die Steigerung der notwendigen Qualifikationen der stellensuchenden Personen. Mit dieser Fachstelle möchten wir die bereits bestehenden privaten Organisationen im Bereich Arbeitsintegration ergänzen.

Die Fachstelle Subsidiarität wird die vorgelagerten Leistungen der Sozialhilfe (z.B. Taggelder von Versicherungen, Unterhaltsbeiträge für Kinder, Familienzulagen etc.) umfassend einfordern und dadurch zu einer Steigerung der Einnahmen beitragen. Bisher wurde das zwar au

ch schon gemacht, aber die Komplexität der Sozialversicherungen und der Lebenslagen der Klienten und Klientinnen hat in den letzten Jahren sehr stark zugenommen. Deswegen mussten wir hier nachziehen.

Es zeigt sich, dass der Bereich Sozialhilfe in den letzten Jahren stark an Dynamik und Komplexität gewonnen hat und die Entwicklung weitergeht. Die Gemeinde Pratteln muss mit dieser Entwicklung Schritt halten können. Als Gemeinde mit einer der höchsten Sozialhilfequote ist es unser Anspruch diesen Bereich aktiv mitzugestalten und nicht nur passiv zu reagieren. Dies ist im Sinne und zum Wohle aller – auch der unterstützen Personen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein