Wahlrecht & Integration – gibt es Zusammenhänge?

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Ja!

Im allseits unbestrittenen Musterland der Demokratie in Europa, in Schweden, dürfen alle Ausländerinnen und Ausländer nach einer gewissen Aufenthaltsdauer auf regionaler Ebene wählen, auch ohne den schwedischen Pass. 

EU-Bürgerinnen und -Bürger erhalten das Wahlrecht sogar sofort bei Wohnsitznahme!

Ausländer & Ausländerinnen aus Drittstaaten – somit auch die Schweizerinnen & Schweizer – müssen seit mindestens drei Jahren im Land leben, um das regionale Wahlrecht zu erhalten.

Demokratisches Mitspracherecht ist somit oft nur den Staatsangehörigen des jeweiligen Landes vorbehalten. Wer wählen will, muss sich eben einbürgern lassen. 

Bislang gilt das auch in der Schweiz weitgehend, wobei in manchen Gemeinden und Kantonen die Ausländerinnen & Ausländer zumindest bei manchen Vorlagen an die Urne dürfen. 

Siehe bitte die Karte und die Legende dazu, interaktiv für alle CH-Gemeinden & Kantone am besten erkennbar über den folgenden Link des Bundes:

https://www.atlas.bfs.admin.ch/maps/13/de/13343_9167_89_70/21724.html

(Grobübersicht auf einen Blick auf das Artikel-Foto: siehe oben.)

Forschende der Universität Basel haben nun untersucht, ob sich dadurch die Zahl der Einbürgerungen ändert. Die Erkenntnisse könnten auch für die Schweiz relevant sein.

Das Forschungsteam hat im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts «nccr – on the move» analysiert, ob und inwiefern sich diese sogenannte Entkoppelung von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft auf die Motivation zur Einbürgerung auswirkt, die gemeinhin als Zeichen einer gelungenen Integration gilt. 

Die Resultate publizierten die Forschenden der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in DE-Mannheim und der Universität S-Malmö kürzlich im «Journal of Ethnic and Migration Studies».

Die Forschenden gingen im Vorfeld von zwei möglichen Effekten aus: «Auf der einen Seite erwarteten wir, dass sich die Menschen weniger oft einbürgern lassen, weil sie ja auch so mitbestimmen dürfen. Auf der anderen Seite vermuteten wir, dass die Erfahrung mit dem Wahlrecht ein zusätzlicher Motivator sein könnte, sich im Gastland zu integrieren und schliesslich den Pass zu erwerben», sagt Alois Stutzer, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Basel.

Die Analyse der schwedischen Zahlen zur Einbürgerung liefert Hinweise für gleich beide Hypothesen. 

Entscheidend dafür, ob sich jemand nach der Einladung zur Wahlteilnahme mit höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit um die schwedische Staatsbürgerschaft bemühte, war demnach das Herkunftsland. 

Für Geflüchtete und Personen aus Ländern mit einem niedrigen Lebensstandard (Human Development Index – HDI) scheint die Erfahrung mit dem Wahlrecht eine zusätzliche Motivation zu sein, sich einbürgern zu lassen. 

Im Gegensatz dazu strebten Personen aus Ländern mit einem hohen Lebensstandard die Staatsbürgerschaft weniger oft an, wenn sie davor an den Wahlen teilnehmen konnten.

«Für Personen aus Ländern mit einem tieferen HDI ist es oft eine neue Erfahrung, an freien demokratischen Entscheidungen teilzunehmen» sagt Alois Stutzer. 

Der schwedische Pass bringt zudem Vorteile über die politische Teilhabe hinaus. So wird etwa bei den Visa-Bestimmungen eine grössere Reisefreiheit in Aussicht gestellt.

Für Personen aus Ländern mit einem höheren HDI ist mit dem Erhalt des Wahlrechts ein wichtiges Ziel erreicht. Ein Einbürgerungsverfahren ist dann weniger attraktiv und dringlich. «Für beide Gruppen gilt offenbar, dass sie das Wahlrecht als wertvoll einstufen, jedoch aus unterschiedlichen Motiven und mit entsprechend unterschiedlichen Auswirkungen auf eine allfällige Einbürgerung», hält Stutzer fest.

Auch hier in der Schweiz stellt sich die Frage immer wieder, inwieweit sich Ausländerinnen & Ausländer an Wahlen und Abstimmungen beteiligen dürfen sollen. 

Eine Empfehlung für die schweizerische Praxis will Alois Stutzer nicht abgeben. Es könne sich aber lohnen, die Auswertung der Zahlen aus Schweden zu beachten: «Die Stärke der Untersuchung ist, dass sie eine belastbare empirische Evidenz liefert, jenseits von Ansichten und Überzeugungen.»

Mit der direkten Demokratie unterscheidet sich das Schweizer System allerdings vom schwedischen. Dennoch vermutet Stutzer bezüglich der Wahrnehmung des Wahlrechts ähnliche Mechanismen wie in Schweden. Für die vielen Ausländerinnen & Ausländer aus hochentwickelten Ländern könnte der Erhalt des Stimmrechts ihre Bemühungen um eine Einbürgerung reduzieren.

Für ehemalige Flüchtlinge wiederum könnte die Vergabe des Wahlrechts auch in der Schweiz ein Ansatzpunkt für eine schnellere Integration sein. 

«Es gibt empirische Evidenz dafür, dass demokratische Werte durch demokratische Erfahrungen gestärkt werden», so der Wirtschaftsprofessor. 

Für das Verständnis des Systems sei die sogenannte demokratische Sozialisierung wichtig, also die Erfahrungen mit den Mechanismen und Regeln einer Demokratie. «Davon hängen Qualität und Akzeptanz dieser Staatsform ab» ist Stutzer überzeugt.

Die Entkoppelungsdiskussion gebe es in der Schweiz auch im Rahmen des Stimmrechtsalters 16, wo das Wahlrecht von der Mündigkeit gelöst wird. «Auch hier ist zu fragen, wie sich eine frühere Erfahrung auf die demokratische Sozialisierung auswirkt», gibt Stutzer zu bedenken. 

Er & sein Team wollen nun genauer untersuchen, wie sich das Stimm- und Wahlrecht für Nicht-Schweizerinnen und -Schweizer im Kanton Waadt auf die Anzahl der Einbürgerungsverfahren auswirkt.

Quelle:

Michaela Slotwinski, Alois Stutzer, Pieter Bevelander

From participants to citizens? Democratic voting rights and naturalisation behaviour.

Jour

nal of Ethnic and Migration Studies (2023), doi: 10.1080/1369183X.2023.2193863

Foto: https://www.atlas.bfs.admin.ch/maps/13/de/13343_9167_89_70/21724.html

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