Raus aus Russland? Mitnichten.

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Als sich ausreichend informiert fühlender Mensch hatte man bis heute die Vorstellung, dass die meisten westlichen Firmen wegen des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine die Russische Föderation inzwischen verlassen haben.

Das ist aber nicht der Fall!

Wenn man dann bei empirischen Forschern nachschlägt und eine vor zehn Wochen veröffentlichte allseits als valide geltende Fachstudie vom 20.12.2022 zur Kenntnis nimmt, ist man ernüchtert. Nämlich darüber, dass man die tagesmediale Berichterstattung einfach selber unkritisch übernommen und nie hinterfragt hat und dann im Grunde alles nachlaberte, was in allen grossen Tageszeitungen dazu geschrieben wurde.

Ihren Rückzug aus Russland haben viele grosse Firmen nach Kriegsbeginn am 24.2.22 schnell und nicht selten sehr öffentlichkeitswirksam verkündet, doch dessen Umsetzung gestaltet sich für die Unternehmen offenbar sehr viel schwerer als gedacht. Der Ausstieg aus dem russischen Markt ist alles andere als eine Übung von nur wenigen Tagen, wenigen Wochen oder wenigen Monaten. Es sei denn, man war, wie z.B. die Kette McDonalds, strukturell klar aufgestellt, Eigner aller Läden und kam deshalb rasch zu einer Paketlösung, wo reiche Russen dann dankbar zugriffen und die Kette über Nacht umfirmierten.

Die Gründe für diese Schwierigkeiten sind die aktuellen bürokratische Hürden und die flexiblen Schikanen seitens des russischen Staates, die rechtliche Unsicherheiten im Grossen wie im Kleinen, die wegen der Sanktionen sich fluchtartig zurückziehenden westlichen Banker, der sanktionsbedingte Ausschluss Russlands von den westlich dominierten Zahlungssystemen und die Rubel-Zwangswirtschaft, mit der Präsident Putin nicht gerade ungeschickt diktiert und die Unternehmen an die Kandarre nimmt.

Manche Firmen hoffen wohl auch insgeheim schon in naher Zukunft ganz rasch wiederkommen zu können, wenn Wladimir Putin – wie in Russland üblich – mal «aus dem Fenster fiele» oder von seinen Ex-FSB-Kumpanen «auf der Flucht erschossen» wird und der vom Westen systematisch aufgebaute Michail Borissowitsch Chodorkowski rasch in dessen Amt gelangt und die Tore ins Land wieder öffnet.

Andere Firmen wie z.B. die deutsche DEA-Wintershall nehmen die hohen Abschreibungen aus grundsätzlichen Erwägungen einfach in Kauf; über 7 Milliarden Euro hat die BASF-Tochter Wintershall mit ihrem gutgläubigen Russland-Engagement verloren, wie in einem Wirtschaftsmagazin zu lesen war.

Eines zeigt das Dekret von Russlands Präsident Wladimir Putin, mit dem er z.B. jüngst die Kontrolle über ein Gas-Projekt übernahm, an dem ausländische Konzerne wie Shell, Mitsui und Mitsubishi beteiligt sind: «Handelt schnell oder lasst es sein.»

Für einen vollständigen wirtschaftlichen Rückzug aus Russland gibt es somit zahlreiche Hürden, an welche die Unternehmen bei ihren Planspielen bis hin zu einer damals immerhin theoretisch möglichen Desinvestition in Russland wohl je kaum gedacht hatten. 

Die rechtliche Lage ist undurchsichtig und es herrscht Verwirrung darüber welche Schritte der Staat Russland jetzt überhaupt noch erlaubt. Die Belegschaft in den Firmen ist verunsichert und fürchtet Repressalien, wenn das Geschäft einfach aufgegeben wird. 

Ein glaubwürdiger, «tageslichttauglicher» und liquider Käufer für die Unternehmen muss in kurzer Zeit auch noch gefunden werden. Verkaufen unter Druck bedeutet immer auch sinkende Verkaufspreise, denn die potenziellen Käufer wissen ganz genau, unter welchem Druck die verkaufswilligen Firmen stehen.

Verhandlungen laufen jetzt überwiegend via Videokonferenzen, denn nach Moskau reist man nicht mehr so gerne wie früher. Die Regierung in Moskau bereitet zudem ein Gesetz vor, das es ihr erlauben würde, die Kontrolle über lokale Geschäfte von Firmen zu übernehmen, die sich aus dem ganzen Land zurückziehen wollen. 

Auch auf Firmen, die nach Kriegsbeginn lauthals ihren Abschied verkündet haben und sich sicher wähnten, diesen zeitnah umsetzen zu können, kommen plötzlich ungeahnte Probleme zu. Die Kette Burger-King z.B., hatte im vergangenen März 2022 schon die Unterstützung für seine Filialen in Russland vollständig aufgekündigt. Doch geschlossen sind deren Filialen bis heute immer noch nicht, wegen der sehr komplexen Verträge und den eigenwilligen Konstruktionen beim Franchising im Gegensatz zum Mitbewerber McDonalds.

Beliebt sind immer mehr Notlösungen, die Produktionsstätten – vorübergehend – an das russische Management zu übergeben, doch das kann auch ziemlich schmerzhafte Abschreibungen zur Folge haben. Einige Unternehmen hoffen, nach dem Ende des Kriegs und/oder dem Ende von Präsident Putin wieder rasch den vollen Zugriff auf ihre Fabriken zu bekommen und wollen sich so über die Zeit bis dahin durchwursteln.

Wie oben erwähnt, fehlen die westlichen Banker, die solche Transaktionen in Russland fachlich versiert noch angemessen begleiten können. Alle grossen und kleine Banken lassen aus Angst vor Verstössen gegen die westlichen Sanktionen konsequent die Finger von allen Russen-Geschäften, die früher in normalen Zeiten ohne sie nicht aufgegleist und abgewickelt wurden. Nicht nur die US-Amerikaner schauen sehr genau hin wie die Banken sich verhalten. Weltweite Recherchenetzwerke sind am Schaffen und Entlarven von russischen Geldwäschegeschäften und in der Schweiz wird aktuell ein Gesetz entschärft, was 2015 rasch durchs Parlament gepeitscht wurde und journalistische Arbeit mit entwendeten Bankdaten mit bis zu 5 Jahren Haft strafbewehrte; die Schweiz wurde dafür international gerügt und an den Pranger gestellt, dass sie die normale Berufsarbeit von Journalisten so nachhaltig behindert.

Unternehmen müssen sich nun auf die russischen Anwälte und Berater vor Ort in Russland verlassen, um liquide und glaubwürdige Käufer zu finden, die zudem nicht auf einer der ständig ergänzten westlichen Sanktionslisten stehen dürfen, die auch mal willkürlich sind, wie man hierzulande anhand von Fällen reicher Doppelbürgern & Investoren studieren kann.

Und alle Beteiligten halten immer und überall die hohle Hand auf. Insgesamt liegt es ja nicht gerade im Interesse der russischen Regierung die Unternehmen einfach so aus dem Land zu entlassen. Wer komplett gehen will, soll nach dem Willen der Machthaber in Moskau vorher noch richtig bluten oder am besten gleich verzichten und das Eigentum abtreten.

Es ist somit eine unübersichtliche Gemengelage von unterschiedlichen Zielen, Motivationslagen und Einflussfaktoren vorhanden. Nach nunmehr 373 Tagen Eroberungskrieg.

Übersichtlich sind hingegen die aktuellen Forschungsergebnisse dazu aus der Schweiz. Professor Simon Evenett vom SIAW-HSG, Gründer des St. Gallen Endowment for Prosperity through Trade (SGEPT) und Koordinator des Global Trade Alert (GTA) und IMD-Professor Niccolò Pisani aus Lausanne zeigten, dass sich die westlichen Unternehmen nur in sehr begrenztem Umfang bisher aus Russland zurückgezogen haben. 

Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen widerlegen die in den Medien geäusserte und unter Journalisten gegenseitig mehr oder weniger abgekupferte Behauptung, dass westliche Unternehmen den russischen Markt in grossem Umfang verlassen oder bereits verlassen haben. Tatsächlich haben viele westliche Unternehmen dem Druck von westlichen Regierungen, den westlichen Medien und den Nichtregierungsorganisationen (NGO`s) eher widerstanden, und das sanktionsbelegte Russland eben nicht verlassen.

Als Putins Armee vor über einem Jahr in die Ukraine einfiel, waren insgesamt 2405 Tochtergesellschaften von 1404 EU- und G7-Unternehmen in Russland aktiv. 

Bis Ende November 2022 – also vor knapp 3 Monaten – hatten weniger als 9 Prozent dieser Unternehmen mindestens eine Tochtergesellschaft in Russland veräussert, stellte das Forschungsteam fest. Diese sehr geringen Veräusserungsraten haben sich im vierten Quartal 2022 kaum verändert. 

Die bestätigten Veräusserungen durch EU- und G7-Firmen mit Kapitalbeteiligungen in Russland umfassen 6.5 Prozent des gesamten Gewinns vor Steuern aller EU- und G7-Firmen mit aktiver Geschäftstätigkeit in Russland. Sie umfassen 8.6 Prozent des Sachanlagevermögens, sie umfassen 8.6 Prozent der gesamten Aktiva, sie umfassen 10.4 Prozent der Betriebseinnahmen und sie umfassen 15.3 Prozent der gesamten Beschäftigten (weil vermutlich personalintensiver als im Westen).

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die sich zurückziehenden westlichen Unternehmen im Durchschnitt eine geringere Rentabilität aufwiesen und über eine grössere Belegschaft verfügten, was wiederum dazu beigetragen haben könnte, dass sie so in der medialen Öffentlichkeit auch viel stärker wahrgenommen wurden. 

Seit dem russischen Überfall haben sich mehr ausländische Unternehmen mit einem Hauptsitz in den USA zurückgezogen als solche mit einem Hauptsitz in der EU oder mit einem Hauptsitz in Japan. Dennoch deuten die Ergebnisse darauf hin, dass weniger als 18 Prozent der US-Tochtergesellschaften dann tatsächlich auch veräussert wurden. 15 Prozent der japanischen Firmen haben sich von russischen Tochterfirmen getrennt. Und nur 8.3 Prozent der EU-Firmen haben sich aus Russland zurückgezogen. Von den in Russland verbliebenen westlichen Unternehmen sind 19.5 Prozent deutsche Unternehmen, 12.4 Prozent US-amerikanische Unternehmen und 7 Prozent japanische multinationale Unternehmen. 

Diese Ergebnisse stellen die Bereitschaft westlicher Unternehmen erheblich in Frage, sich von solchen Volkswirtschaften abzukoppeln, die von den Regierungen ihrer Heimatländer inzwischen als «geopolitische Rivalen» oder das «Reich des Bösen» eingestuft werden. Im Grunde könnte man schlussfolgern, dass diese Studienergebnisse ein Realitätscheck für die Behauptung sind, dass nationale Sicherheitsbedenken und geopolitische Erwägungen zu einer grundlegenden Rückabwicklung der Globalisierung führen. 

Es bleibt festzuhalten, dass die von den Profs. Evenett & Pisani umfangreich erhobenen aktuellen Daten aufzeigen, dass eine grosse Anzahl von Unternehmen mit Hauptsitz in der Europäischen Union (EU) und den G7-Staaten weiterhin in der russischen Föderation tätig ist und dort investiert. Sanktionen hin, Sanktionen her! Unterschwellige oder offene Drohungen aus den USA hin oder her, das Kapital sucht sich seine Wege.

Man kann gespannt sein, wann auf dem SRF-Campus in ZH-Leutschenbach, im ZDF-Studio in Mainz, im ARD-Studio in Hamburg, beim ORF in Wien und beim TV-FL in Vaduz solche nüchternen und verifizierten Zahlen – von professionellen Forschern erhoben – endlich einmal Eingang in die verantwortlichen Redaktionskonferenzen finden und die deutschsprachige Bevölkerung auftragsgemäss & statutengerecht wahrheitsgemäss informiert wird – wenigstens durch diese fünf deutschsprachigen öffentlich-rechtlichen Transferzahlungsempfänger.

Anmerkung: “Mitnichten” bedeutet “keineswegs”.

Quelle: “Less than Nine Percent of Western Firms Have Divested from Russia” Posted: 13 Jan 2023 Last revised: 31 Jan 2023, Simon Evenett, University of St. Gallen – Economics Departme

nt – SIANiccolò Pisani, IMD: Date Written: December 20, 2022

http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.4322502

Foto: shutterstock free photos

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