Das schlechte Gewissen

Auszeit mit

Was tun wir nicht alles, um unser schlechtes Gewissen zu beruhigen. Wir rennen zum Beispiel bei erstbester Gelegenheit auf den Berner Bundesplatz – wenn die umtriebigen Disc-Jockeys des Staatsradios mit weinerlicher Stimme die Solidarität mit der kriegsgeplagten ukrainischen Bevölkerung ausrufen und ihr Spenden-Kässeli publikumswirksam vor dem Bundeshaus aufstellen. Nur zur Information: seit Beginn der russischen Aggression gegen seinen ehemaligen Gliedstaat wurden in der Schweiz schon 285 Millionen Franken gespendet! Und die Stiftung «Zewo», die Hilfsorganisationen zertifiziert, sieht den Spendenrekord von 2005 in Gefahr. Nach der Tsunami-Katastrophe waren damals 300 Millionen zusammengekommen. Schön und gut.

Nun fördern Untersuchungen zutage, dass das meiste Spendengeld noch gar nicht in die Ukraine geflossen ist. Ein halbes Jahr nach den ersten Sammelaktionen. Lediglich knapp ein Achtel der Spenden hätten ihr Ziel erreicht, vernimmt man. Die «Glückskette» zum Beispiel, das Spenden-Tool unseres Landessenders «SRF», dessen Macher sich nur allzu gerne intensiv gegenseitig auf die Schulter klopfen, hat von den gesammelten 126 Millionen noch keine zehn Prozent in der Ukraine selbst, also vor Ort, ausgegeben. Man fragt sich, in welcher Manager-Stube der Rest hin und her gestapelt wird. Dass gerade bei den SRF-Glücksrittern eher mehr Spendenfranken als weniger in die Verwaltung und einen administrativen Wasserkopf fliessen, ist nachgerade bekannt. Was diese Erkenntnis mit unserem schlechten Gewissen macht? Naja…

In der Gluthitze dieser Tage scheint es uns ohnehin nicht opportun, uns einen Kopf über Spendengelder für die Ukraine zu machen. Unser schlechtes Gewissen schlägt aus ganz anderen Gründen Alarm. Stichwort Klimawandel. Wir stellen uns die Frage, ob wir uns ohne Scham in den Flieger nach Santo Domingo setzen dürfen. Jetzt endlich. Nach zwei Jahren pandemischem Ausweichen in die Schweizer Berge. Wir rufen uns deshalb unsere Opferbereitschaft ins Bewusstsein. Genau – schliesslich leisten wir durchaus unseren persönlichen Beitrag zur Rettung des Klimas. Wir ernähren uns vegetarisch, wir haben uns eine Elektro-Auto angeschafft, und wir haben von einer Ölheizung auf eine Wärmepumpe umgestellt. Das sollte doch schon mal unser Gewissen ein klein wenig beruhigen.

Aber reicht das?

Man lese und staune:

Ein Jahr vegetarische Ernährung verursacht 34% weniger CO2 als eine durchschnittliche Ernährung – aber, diese CO2-Ersparnis von 777 kg CO2 wird mit einem einzigen Hin- und Rückflug von Zürich nach Neapel zunichtegemacht! Beeindruckend.

Das ist eines der Ergebnisse von Berechnungen des auf Ökobilanzen spezialisierten Unternehmens «ESU-Services», anhand derer die Treibhausgasemissionen von Flugreisen pro Person mit verschiedenen persönlichen Massnahmen zum Klimaschutz verglichen wurden.

Noch ein Beispiel gefällig?

Dann dieses: ein Jahr unterwegs mit dem Elektroauto verursacht 63% weniger CO2 als mit einem Benziner oder Diesel. Diese CO2-Ersparnis von 1481 kg CO2 wird mit einem einzigen Hin- und Rückflug von Zürich nach Lissabon zunichtegemacht.

Jetzt hocken wir vegetarischen Tesla-Piloten in der SWISS-Holzklasse nach Santo Domingo und es bleibt uns nichts anderes, als das schlechte Gewissen mitfliegen zu lassen. Vielleicht tröstet uns der Plan, unsere Wohnung einen Winter lang ein Grad weniger zu heizen. Das spart immerhin 6% CO2. Nur: der Minderverbrauch von 90 kg CO2 reicht gerade einmal für einen Flug von Zürich zur Eigernordwand und zurück.

Das war’s dann wohl auch nicht.

Quintessenz ist: wir werden das schlechte Gewissen vorerst einfach nicht los. Und wenn, dann meldet es sich spätestens auf dem Rückflug von Santo Domingo wieder. Dann, wenn wir wieder mit dem Alltag konfrontiert werden. Und mit der Tatsache, den ukrainischen Flüchtlingen in unserer Einlegerwohnung klarmachen zu müssen, dass wir uns ein Zusammenleben mit ihnen nicht länger vorstellen können und uns dazu entschlossen haben, sie zur Unterbringung den zuständigen Stellen der Gemeinde anzuvertrauen.

Es war ja auch eine Furzidee damals, den Ukrainern einfach so die Türe zu öffnen. Na ja, das schlechte Gewissen halt… der Lateiner sagt dazu nur: quidquid agis, prudenter agas, et respice finem. Zu Deutsch – «was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.» Es wird uns – natürlich – mit einem schlechten Gewissen zurücklassen, wenn die ukrainische Familie mit Sack und Pack in die Flüchtlings-Container der Gemeinde dislozieren muss. Vielleicht beruhigen wir dieses dann ja im kommenden Advent wieder, wenn Radio und Fernsehen SRF mit der Aktion «Jeder Rappen zählt» unser Spender-Gen in Vibration versetzt.

Begleitet wieder vom schlechten Gewissen. Oder so…

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