Es ist so wie es nie war.

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Im letzten Artikel zur Neutralität der Schweiz wurde detailliert beleuchtet, wie die Schweiz in ihrer Geschichte zu dieser besonderen Situation – dem “Sonderfall Schweiz” – eigentlich mal gekommen ist. 

Diese Neutralität war ja keine Erfindung der SchweizerInnen selbst, sondern eine «immerwährende Neutralität» war damals die Idee ihrer grossen Nachbarn und ehemaligen Kriegsherren, sie wurde den Eidgenossen in Wien 1814 einfach auferlegt und durch diese dann mit Schlauheit & taktischem Geschick in den 209 Jahren danach mit Leben erfüllt – mit einem beeindruckenden gesellschaftlichen Ergebnis.

https://www.dzytig.ch/schweiz/wie-kam-die-schweiz-zu-ihrer-neutralitaet/.

Am heutigen 24. Februar jährt sich der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. 365 Tage sinnloses Gemetzel und jetziges Verharren im Stellungskrieg wie 1918 erschüttern seitdem Europa und die Welt. Und es sagt einem das Bauchgefühl, dass wir den 2. und 3. Jahrestag dieses Krieges auch erleben werden, wenn es keine nachhaltige Lösung gibt (Sturz, Auslieferung & Inhaftierung Putins in Den Haag) oder eine “biologische Lösung des Problems Putin» denselben über Nacht ereilt.

Russland setzt auf seine unerschöpfliche Masse an Menschen, Maschinen & Munition, bewegt sich an der Front aber nicht mehr wesentlich vorwärts und wird in keinem Fall zurückweichen und die besetzten Gebiete wieder räumen. Von der Rückgabe der seit 2014 besetzten Halbinsel Krim ganz zu schweigen. Und die Ukraine wird es mangels Masse an Menschen, Maschinen & Munition wohl nicht schaffen können, die russische Armee bis hinter die Landesgrenzen am Stichtag 23.2.2022 wieder zu vertreiben.

Russland will wieder das alte, grosse Russland werden. Die Staaten Osteuropas wollen autonom bleiben und sich in die NATO und die EU retten. Die USA wollen Weltmacht Nr. 1 bleiben. China will Weltmacht Nr. 1 werden. Indien will grösser als China werden. Präsident Emmanuel Macrons Frankreich will leader in Europa werden. Kanzler Scholz’ Deutschland will Geschäfte machen und den Rest vergessen und manche in Deutschland träumen heimlich von einer raschen Reparatur der beiden Nord-Stream-Röhren in der Zeit nach Putin.

Und die Schweiz? Quo vadis.

Für die Schweiz hat dieser russische Angriffskrieg wieder mal die Frage aufgeworfen, welche Neutralitätsstrategie man hierzulande noch verfolgen will. Denn aus Gründen der Neutralität liefert die Schweiz bekanntlich keine Waffen an die Ukraine und erlaubt auch anderen Ländern nicht, gekaufte Schweizer Waffen & Munition in die Ukraine zu exportieren. 

Diese Weigerung der Schweiz, wenigstens die Weitergabe von Waffen & Munition an die Ukraine zu ermöglichen, wird im Ausland nur noch zur Kenntnis genommen, aber nicht mehr verstanden. Schon am Treffen der “Welten-Lenker” am WEF in Davos im Januar war die Weigerung des Bundesrates (Regierung), den anderen Ländern die Weitergabe von in der Schweiz gekauften Waffen & Munition an die Ukraine zu erlauben, ungewöhnlich direkt kritisiert worden.

Seither hat sich die Lage im Kriegsgebiet verschärft. Russland hat seine angekündigte Winteroffensive begonnen und setzt die Ukrainer vor allem im Donbass massiv unter Druck. 

Die Stimmung in München an der jüngst zu Ende gegangenen Sicherheitskonferenz war dann auch entsprechend düster. «Wir stehen vor einer militärischen Eskalation. Das ist, was man hier gut spürt», sagte der schweizerische Aussenminister Ignazio Cassis in München dem Schweizer Fernsehen SRF.

Im Schweizerischen Bundesrat (Regierung) und im Nationalrat (Parlament) ist man sich durchaus bewusst, dass man bezüglich der Neutralität nicht nur argumentativ am Anschlag steht. Die Schweiz müsse «eine Isolation vermeiden», warnte die schweizerische Verteidigungsministerin Viola Amherd und verwies auf die Diskussionen im Parlament über das Kriegsmaterialgesetz: «Es wird vielleicht eine Änderung geben.» 

Die Lage im Parlament (Nationalrat) ist aber wenig übersichtlich und jede Partei «kocht dort ihr Süppchen». Derzeit behaken sich mit Vehemenz die FDP und die Volkspartei (SVP).

Aber damit nicht genug: die Schweiz hilft der Ukraine – gemessen an ihrer sehr grossen Wirtschaftskraft – deutlich weniger als die meisten anderen europäischen Länder. 

Das zeigen die neuesten Daten des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel (IfW), die am 22.2.23 sogar auch in der Tagesschau des Fernsehens SRF diskutiert wurden. Mit 0,03 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegt die Schweiz in dieser Liste ganz weit hinten auf einem der letzten Plätze.

In diesen Daten werden aber keine Hilfsprogramme von Privaten berücksichtigt und sie enthalten auch nicht die Hilfen für Geflüchtete. Zwar hat die Schweiz viele UkrainerInnen aufgenommen, aber auch wenn diese Kosten berücksichtigt werden, liegt die Schweiz im europäischen Vergleich der Gesamthilfen auf einem der hinteren Ränge. Ebenfalls in die Bewertung eingeflossen ist dann auch das Waffen-Exportverbot.

Eines hat der Angriffskrieg Russlands schon mal auf jeden Fall bewirkt: man diskutiert hierzulande in der politisch interessierten Bevölkerung, in sämtlichen Parteien, im Parlament (Nationalrat) und im Ständerat (2. Kammer) inzwischen sehr engagiert über den moralischen Gehalt, eine allfällige Modernisierung und die praktische Anpassung und Auslegung des eigenen Neutralitätsverständnisses. 

Es ist ja überhaupt nicht so, dass die Schweizerinnen & Schweizer bewusst abseitsstehen möchten, sich in dieser Weltlage heraushalten wollen und den Standpunkt leben, dass dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg in der ferneren Nachbarschaft in Europa sie nun überhaupt nichts angehe, da sie neutral wären. Man hat es auch satt als Rosinenpicker und vermeintlich Unsolidarische am Pranger zu stehen. Man redet hierzulande nicht gross, man tut etwas Konkretes. Wer dieses Land länger kennt, weiss dieses unaufgeregte praktische Geschick der Eidgenossen zu schätzen.

Vorgestern, am 22.2.23 wurde bekannt, dass der Bundesrat (Regierung) ein Hilfspaket von 140 Millionen Soforthilfe für die Ukraine und auch für Moldawien geschnürt und beantragt hat. Davon sind 114 Millionen CHF für die Ukraine vorgesehen und 26 Millionen CHF für die Republik Moldawien. Ein Teil der vorgesehenen Hilfe steht bereits in einem Kredit frei, rund 92 Millionen CHF müssen aber noch vom Parlament (Nationalrat) bewilligt werden.

«Der Krieg dauert an. Ein Ende ist nicht in Sicht. Deshalb muss auch unsere Hilfe und unsere Solidarität andauern», sagte der aktuelle Bundespräsident, der Dr. der Wirtschaftswissenschaften Alain Berset – der turnusgemäss jedes Kalenderjahr unter den Mitgliedern des Bundesrats wechselt – vor den internationalen Medien in Bern. 

Der gesamte Bundesrat – mit seinen 7 Mitgliedern, der traditionell nach aussen mit einer Stimme spricht – sei immer noch fest davon überzeugt, dass auch weiterhin viel Unterstützung nötig ist, um die prekäre Situation in der Ukraine zu verbessern und das Funktionieren des dortigen Staates sicherzustellen.

Diese Hilfe solle sich an den Bedürfnissen der Länder und der fachlichen Expertise der Schweiz orientieren. So sei unter anderem vorgesehen, Schutzunterkünfte für Schulen zu bauen, Reparaturen an Spitälern vorzunehmen, Minen zu räumen und die Bevölkerung mit psychosozialer Hilfe zu unterstützen.

Es tut sich aktuell sehr viel in «Bundesbern» und in allen 26 Kantonen der Eidgenossenschaft. Und die private Solidarität ist eher still & eher gross. Das traditionell bei Notlagen zum Einsatz kommende schweizerische Hilfswerk «Die Glückskette» z.B. sammelte allein schon 130 Millionen CHF an privaten Spenden. Für dieses kleine Land ist das ein erheblicher und bemerkenswerter Geldbetrag.

Laut dem Eidgenössischem Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat die Schweiz bisher rund 270 Millionen Franken für direkte Hilfe und Beiträge an internationale Organisationen investiert. Die Schweiz hat bereits über 1000 Tonnen Hilfsgüter direkt in die Ukraine geliefert und 4765 Tonnen Nahrungsmittel vor Ort beschafft.

Weitere 1,035 Milliarden CHF seien für die Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine investiert worden, so das Aussenministerium (EDA). Militärische Unterstützung leistet die Schweiz aus Gründen der Neutralität bekanntlich keine. Das sei eine Frage der Glaubwürdigkeit, sagte Bundespräsident Alain Berset. Neutral zu sein, heisse jedoch nicht, gleichgültig zu sein. Sanktionen mitzutragen sei mit der Neutralität der Schweiz sicher vereinbar, Waffenlieferungen aber eben nicht.

78’000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit Kriegsbeginn in die Schweiz geflüchtet. Jeder 7. hat bisher einen Job gefunden. 23 Prozent suchen aktuell eine Arbeitsstelle. Die Sprache ist der Hindernisgrund bei der Arbeitsfindung. Deutsch lernen ist angesagt.

Die Arbeitslosenquote in der Schweiz liegt derweil bei nur 2,2 Prozent – man spricht damit von «beinahe Vollbeschäftigung».

Aufgrund des zahlenmässigen – und für das schweizerische Selbstverständnis eher unseligen – Vergleichs des bekannten deutschen Weltwirtschaftsinstituts (IfW) aus Kiel, ist in den vergangenen Tagen Kritik laut und die Frage aufgeworfen geworden, ob die Schweiz wirklich genügend Hilfe an die Ukraine leistet. 

«Die Schweiz macht genug, ich werde nicht rot», sagte der schweizerische Aussenminister, der Internist Dr. med. Ignazio Cassis selbstbewusst auf eine diesbezügliche Frage eines einheimischen Journalisten. Man könne immer mehr tun, aber die Schweiz werde für ihre Hilfe geachtet und sie werde dafür international respektiert.

In seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung in New York am gestrigen 23.2.23 sagte Aussenminister Cassis, dass die russische Aggression gegen die Ukraine einmal mehr zeige, dass man noch nicht am Ziel sei, so Cassis: «Ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats hat bewusst entschieden, sein Nachbarland anzugreifen.»

Dieser Krieg betreffe alle Staaten und seine Folgen seien katastrophal. Die Schweiz verurteile die in der Ukraine begangenen Verletzungen der Menschenrechte entschieden, sagte der schweizerische Aussenminister. Er rief die ganze Staatengemeinschaft auf, auf eine friedliche Beilegung des Ko

nflikts hinzuarbeiten. Die gestrige Abstimmung in der UNO-Vollversammlung mit dem starken Votum gegen Russland und den wenigen Gegenstimmen der üblichen Verdächtigen spricht da für sich.

Cartoon:von Peter Schrank, geboren 1952 in St. Gallen. Schrank’s cartoons have featured in the UK’s Independent on Sunday newspaper, The Economist magazine, Switzerland’s Basler Zeitung, and Ireland’s Sunday Business Post.

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