Erhaltung unseres Gedächtnisses: Nutz es oder verlier es!

0

Wer im Berufsleben steht, dem wird es oft in aller Deutlichkeit gesagt: Lebenslanges Lernen ist ein Muss. Doch wer sein Gehirn fit hält, profitiert auch ausserhalb der Arbeitswelt; und zwar bis ins hohe Alter.

Wissen und Fähigkeiten sind einem ständigen Wandel unterworfen: Bestehendes Wissen geht verloren oder verliert seinen Wert, neue Fähigkeiten sind gefragt. Entwicklungen wie die allgemeine Digitalisierung beschleunigen diesen Prozess. 

«Um Bildungsdefizite zu schliessen, ist lebenslanges Lernen ein Muss.» – Dieses Zitat stammt vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, dem Kompetenzzentrum des Bundes für national und international ausgerichtete Fragen der Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik. 

Dem Ruf nach einem lebenslangen Lernen zur Sicherung von Arbeitsmarktkompetenzen und Fähigkeiten begegnet man fast täglich. Viel weniger Beachtung findet hingegen, dass es auch andere Aspekte des lebenslangen Lernens gibt.

Lebenslanges Lernen als Anti-Aging-Pille

«Die beste Anti-Aging-Pille ist nun mal, lange sozial, kognitiv und körperlich aktiv zu bleiben.» – Lutz Jäncke ist Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich und gehört zu den meistzitierten Wissenschaftlern der Gegenwart. https://www.psychologie.uzh.ch/de/bereiche/nec/neuropsy/Team/Leitung/jaencke.html

Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Erforschung der Hirnleistung im Alter. «Das menschliche Gehirn ist ein unglaublich faszinierendes Organ. 80 bis 100 Milliarden Nervenzellen befinden sich darin. Und jede Nervenzelle hat mindestens 10’000 Verbindungen», erklärte er im vergangenen Herbst am KMU-Tag in den St.Galler Olma Hallen.

In seinen Vorträgen stellt Lutz Jäncke unser Gehirn als ein riesiges Netzwerk dar, das bis ins hohe Alter veränderbar und plastisch bleibt und sich sogar verjüngen (!) kann, wenn wir es nutzen. Unter seiner Leitung begleitete ein Forschungsteam über sieben Jahren lang mehr als 200 Seniorinnen und Senioren, die nicht dement, durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent und sozial sehr aktiv sind. 

Ein erstes Fazit aus der Langzeitstudie lautet: Eine gute Ausbildung und lebenslanges Lernen können dazu führen, dass gewisse Degenerationsprozesse im Gehirn weniger stark voranschreiten. Altersbedingte kognitive und neuronale Einschränkungen werden besser kompensiert.

«Durch Lernen verhindern wir, dass der normale Degenerationsprozess unserer Lernmaschine eintritt. Deshalb: Use it or lose it», ist ein weiteres Zitat des Neuropsychologen. Er stellt aber auch klar, dass ältere Menschen zwar problemlos Neues lernen können, für den Erfolg jedoch Motivation und Zeit nötig sind. Sein Rat lautet deshalb, etwas zu lernen, was Freude macht, mit Spass verbunden ist, auch im Alter nützlich ist und sinnvoll eingesetzt werden kann. Als Beispiele nennt er das Erlernen eines Musikinstruments oder einer Fremdsprache, die man auf Reisen und im Gespräch mit anderen Menschen einsetzen kann.

Lebenslanges Lernen als soziale Innovation

«Heute trennen wir scharf zwischen Hobby, persönlicher Entwicklung und dem beruflichen Werdegang. Gedacht war lebenslanges Lernen einst als gesellschaftliches Projekt auf allen Ebenen.» – Björn Müller ist ausgebildeter Psychologe und promovierte an der Universität St.Gallen in «Organisations- und Kulturtheorie». Als Bildungsunternehmer hat er die «Stride unSchool» mitgegründet. https://www.stride-learning.ch/de/ Sie setzt sich unter anderem für ein integral gedachtes Format des lebenslangen Lernens ein, welches die persönliche Sinnhaftigkeit, die berufliche Relevanz und den gesellschaftlichen Mehrwert nicht gegenseitig ausspielt, sondern als verwobenes Miteinander versteht.

Seine Kritik richtet sich gegen ein eindimensionales Verständnis des lebenslangen Lernens, und damit die Priorisierung für die Arbeitsmarktfähigkeit einer alternden Arbeitsbevölkerung. «Nicht, dass dies nicht wichtig wäre. In Zeiten gewaltiger gesellschaftlicher Herausforderungen, nicht zuletzt einer kriselnden Demokratie an sich, ist die Tatsache, dass lebenslanges Lernen zu einer individuellen Aufgabe und Pflicht im Rahmen der Humankapitalentwicklung verkommen ist, aber ein Unglücksfall und eine verlorene Chance», schreibt er.

Björn Müller erinnert daran, dass lebenslanges Lernen einst als gesellschaftliches Projekt und Bürgerrecht gedacht war und, in diesem Sinne, als soziale Innovation. Er regt an, die meist separat verstandenen Dimensionen zusammen und in ihren wechselseitigen Beziehungen zu denken. Die daraus resultierenden Fragen wären: Wie verhält sich lebenslanges Lernen zu einer lebendigen Demokratie? Wie hängen persönliche Entwicklung und gesellschaftlicher Wandel miteinander zusammen? Wie wichtig ist die persönliche Dimension für die professionellen Herausforderungen der Zukunft? Was wären beispielhafte Weiterbildungsformate, die gleichzeitig dem persönlichen Wohl, der Arbeitsmarktfähigkeit und der Gesellschaft dienen würden? Björn Müllers Fazit lautet: «Das einstige Versprechen einer sozialen Innovation erfüllt lebenslanges Lernen dann, wenn es als Agora verstanden wird: als privat-öffentlicher Zwischenraum, ein Ort, an dem Ich und Wir aktiv aufeinander bezogen werden». Agora: war im antiken Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt

Lebenslanges Lernen als Ruf schon in der Antike

«Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.» und «Man muss so lange lernen, als man noch Mangel an Kenntnissen hat, wenn wir dem Sprichwort glauben wollen, also, solange wir leben.» – Diese beiden Zitate werden dem Römer Seneca der Jüngere zugeordnet, der bereits in der Antike heftige Kritik an der Schule übte und für lebenslanges Lernen plädierte. Die Erkenntnis, dass Lernen bis ins hohe Alter wichtig ist, um sich in einer sich verändernden Umwelt zu behaupten, ist somit keine Erfindung der Neuzeit. Auch war Seneca nicht der Einzige seiner Zeit, der sich mit dem Thema auseinandersetzte. In der Antike befassten sich viele Philosophen mit der Notwendigkeit, dass der Mensch sich sein ganzes Leben lang lernend weiterentwickeln muss.

In späteren Jahrhunderten griffen Pädagogen, Philosophen, Literaten und Soziologen immer wieder den Gedanken auf, dass das in der Schule erlernte Wissen nicht für ein ganzes Leben ausreicht. Der Ruf nach Konzepten zur lebenslangen Bildung kam aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. In den 1970er-Jahren prägte der Europarat – gemeinsam mit der OECD und der UNESCO – wesentlich die Diskussionen um lebenslanges Lernen mit. Seit den 1990er-Jahren wird in der Europäisch

en Union (EU) lebenslanges Lernen als zentrale bildungspolitische Leitkategorie kontinuierlich weiterentwickelt. Das Jahr 1996 wurde zum «Europäischen Jahr des lebensbegleitenden Lernens» erklärt.

Bild: unsplash.com / Filipp Romanovski

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein